Natürlich fühlt es sich komisch an, im Sommer 2025 halbnackt auf der Pritsche einer Zürcher Badeanstalt liegend dieses alte Buch zu lesen. Aber unsere Autorin hat es angesichts der aktuellen Weltlage viel über Glück und Widerstand gelehrt.
Ähnliche Fragen, heute wie damals: Wie konnte es nur so weit kommen? Auf dem Bild: Ein Hitlerjunge arbeitet 1939 als Schaffner in einem Bus in Bayreuth.
AKG-Images
Als allererstes verliess die Liebe das Land. Teddy spürte schon 1930, dass es für sie in diesem Deutschland keine Zukunft mehr gebe. «Wir fühlten um uns herum das ‹braune Deutsch› entstehen», schrieb Sebastian Haffner über diese Zeit. Es verdrängte zuerst die Empfindsamen, die Ahnungsvollen, die Freiheitsliebenden. «Sie war vielleicht die erste Emigrantin», und Teddy kam nie mehr zurück. Sie ging nach Paris und blieb für immer Haffners unerreichte Liebe.
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Jetzt, sechsundzwanzig Jahre nach seinem Tod, ist ein Buch dieser aufgekratzten, eifersüchtigen Liebesgeschichte inmitten der Pariser Bohème erschienen. Haffner, der damals noch seinen echten Namen Raimund Pretzel trug, hatte den Roman mit nur 24 Jahren nach einem Besuch in der Stadt niedergeschrieben und später in einer Schublade versteckt. Es ist eine schöne, atemlose Liebesgeschichte, die leider nicht ohne den zeittypischen Blick auf Frauen auskommt, die mit ihren «Hälschen» und «Pullöverchen» entzücken, denen man aber im Übrigen viel zu erklären weiss.
Vor allem aber ruft «Abschied» zu einer beklemmend günstigen Zeit die Arbeit des wahrscheinlich hellsichtigsten Epochendeuters Deutschlands in Erinnerung, den man heute noch gelesen haben muss. Gerade heute, wenn einem an Demokratien etwas liegt.
Warum hat niemand was unternommen?
Sebastian Haffner wusste schon im Jahr 1939 alles, was nachher in Deutschland niemand mehr gewusst haben wollte. Sein Buch «Geschichte eines Deutschen» war so vorausschauend, dass Historiker den Zeitpunkt seiner Niederschrift anzweifelten, doch sie wurden rasch widerlegt. Haffner sagte bereits 1940 den Selbstmord Hitlers voraus, er wusste, wer die Nationalsozialisten waren, bevor alle ihre Taten bekannt wurden, und er erklärte auch, was den Deutschen fehlte; die Fähigkeit zum persönlichen Glück.
Seiner Zeit voraus: Historiker und Autor Sebastian Haffner, 1972.
Imago
«Geschichte eines Deutschen» ist die Geschichte eines jungen Mannes, dem der Boden unter den Füssen wegzurieseln scheint. Sebastian Haffner spiegelt darin seine eigene Biografie an den Geschehnissen in Deutschland zwischen dem Ersten Weltkrieg 1914 und der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 und berührt dabei jene Fragen, die seither jede Generation von neuem durchfahren: Wie konnte es so weit kommen? Warum hat niemand etwas unternommen? Und: Was hätte ich getan?
«Sebastian Haffner wusste schon im Jahr 1939 alles, was nachher in Deutschland niemand mehr gewusst haben wollte.»
Dies ist der Grund, warum uns Haffners Aufzeichnungen heute noch elektrisieren. Er praktizierte das autobiografische Erzählen, Jahrzehnte bevor wir Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård, Rachel Cusk oder Mely Kiyak dafür mit Preisen überschütteten. Es ist eine Art von Literatur, die so tief ins persönliche Erleben vordringt, dass sie auf universelle Wahrheiten über das Menschsein stösst. Wir werden Haffner, und Haffner sind wir.
Wir werden zum kleinen Raimund, der eifrig Heeresberichte liest und kein spannenderes Spiel kennt als den Krieg der Nationen. Wir verstehen, warum ausgerechnet diese Generation später den zweiten grossen Krieg anzettelte, und wir spüren, wie sich der deutsche Sommer 1932 anfühlte, der letzte schöne Sommer Deutschlands, der geprägt war von einer sonderbaren Atmosphäre: «Gelähmtes Warten auf das Unentrinnbare, dem man doch bis zum letzten Augenblick zu entrinnen hofft.»
Natürlich fühlt es sich komisch an, im Sommer 2025 halbnackt auf der Pritsche einer Zürcher Badeanstalt zu liegen und alte Bücher mit historischen Abbildungen oder Haffners phantastische Verbrecherstudie namens «Anmerkungen zu Hitler» zu lesen, aber dann wiederum auch nicht. Weil man eine ähnliche Lähmung in den USA zu erkennen meint. Weil sich angesichts der Nachrichtenlage auch hier ein Gefühl der Unentrinnbarkeit verbreitet.
1933 begann Haffner dann eben das Leben wegzurieseln. Die Nazis kamen. Er verlor seine Liebe, seine Freunde und seine berufliche Zukunft. Die einen Freunde verlor er, weil sie jüdisch waren und emigrieren mussten – die anderen, weil sie Nazis wurden. Seinen Beruf verlor der junge Justizreferendar, weil die Nazis das Recht abschafften. Ungläubig verfolgte er, wie das jahrhundertealte Kammergericht innert Stunden kollabierte, wie SA-Leute alte jüdische Richter aus der Bibliothek verjagten und gestandene Rechtsgelehrte plötzlich den dilettantischen Rechtsauslegungen junger Nazi-Schnösel lauschten.
Erst verschwanden die Bücher aus den Regalen und dann die Menschen, die sie geschrieben hatten. Der Rundfunkansager landete im Konzentrationslager, man durfte seinen Namen nicht einmal mehr nennen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die einen durch das Leben begleitet hatten, wurden Volksverräterinnen. Der humoristische Pressezeichner sprang in SA-Haft aus dem Fenster, der Kabarett-Conférencier ging auch. Die Zeitungen wurden eingestellt oder klangen plötzlich fremd.
Und Haffner? Haffner war ein gewöhnlicher junger Mann, hochgebildet zwar, aber weder besonders gutaussehend noch besonders mutig oder politisch organisiert. Er mochte Struktur und Ruhe und Freundlichkeit und politisch stand er je nach Umfeld eher links oder eher rechts. Doch «was die Nazis betraf, so entschied meine Nase ganz eindeutig», schreibt er. «Da das Ganze so roch, wie es roch.»
Die Pflicht zum persönlichen Glück
Haffner beschreibt drei Reaktionen der verbleibenden Deutschen: Die Ersten, bevorzugt die Älteren, flüchteten in die Illusion der Überlegenheit. Das waren die, die später kapitulierten. Die Zweiten verbitterten und zelebrierten die «perverse Wollust der Selbstaufgabe». Und die Dritten kapselten sich ab. Sie versuchten, sich nicht vom Hass korrumpieren zu lassen und die Nazis zu ignorieren. Das war Haffner.
Um zum Examen zugelassen zu werden, besuchte er sogar eine «weltanschauliche Schulung». Er beschreibt, wie da «jeder zur Gestapo des anderen» wurde, wie bereits «jeder kollektive Widerstand unmöglich und individueller Widerstand nur noch eine Form des Selbstmordes» war. «Besser ich trug jetzt Armbinde, so blieb ich frei und konnte später meine Freiheit richtig benutzen.»
Haffner spürte, dass in diesem Lager «eine Art des Glücks» blühte. Das Glück der Kameradschaft, der man jegliche Selbstverantwortung abgeben kann. Damit hatten die Nazis die Deutschen verführt. Und hier wuchs Haffners Erkenntnis, dass die Gemeinschaft auch für fremde Zwecke missbraucht werden kann und dass letztlich jeder Mensch die Pflicht hat zum persönlichen Glück.
Was wir über Widerstand lernen können, ist, dass die allermeisten Menschen darin versagen werden. Aber dass man sich wenigstens bemühen muss, zu wissen, was man wissen kann. Haffner wurde Exilant. Als 1938 auch seine Frau plötzlich als jüdisch galt, war es vorbei mit der Abkapselung. Sie wanderten nach England aus, wo er ein anerkannter Publizist und Deutschland-Erklärer wurde. Er wehrte sich am Schreibtisch, mit seiner eigenen Geschichte – ein Held eigentlich, nur dass er die Geschichte nicht sofort publizierte. Sondern dass sein Sohn sie postum zum Bestseller machte.