Fadi Khorshid steht auf den Straßen von Damaskus, es ist Februar 2025. Zehn Jahre vorher floh er aus der syrischen Hauptstadt, musste seine Familie zurücklassen. Besuchen konnte er sie wegen des Bürgerkriegs nicht. Erst mit dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad letzten Dezember wächst die Hoffnung auf ein endgültiges Ende des Konflikts. Und Khorshid kann seine Familie endlich wieder besuchen. Doch jetzt, wo er an dem Ort ist, der so lange unerreichbar war, überwiegt für Khorshid der Schock: »Die Leute dort sind sehr arm. Sie haben kaum Wasser. Der Strom kommt mal für zwei Stunden am Tag, dann aber wieder für drei Tage nicht«, erzählt er. »Ich war traurig und enttäuscht.«
»Der Sturz Assads hat uns alle völlig überrascht«, erinnert sich Khorshid an den 8. Dezember 2024, als er im Mai den kreuzer in Leipzig zum Gespräch trifft. »In den Jahren zuvor waren wir enttäuscht und hoffnungslos. Die Situation hatte uns sehr belastet.« 2015 floh er aufgrund des Bürgerkriegs nach Deutschland. Vielen Syrerinnen und Syrer sei es an dem Tag ähnlich gegangen, wisse er aus Erzählungen von Bekannten.
Zwischen Zweifel und Zuversicht
Doch das war im Dezember. Seitdem ist viel passiert: Ahmed al-Scharaa, ehemaliger Anführer der islamistischen Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), ist nun Präsident und hat eine Übergangsregierung gegründet. Die anfängliche Freude ist bei vielen verflogen. »Damals hatte ich noch große Hoffnung auf eine Zukunft in Syrien. Doch ein paar Wochen später wurde das alles zerstört«, erzählt Sarah Hamdan (Name von der Redaktion geändert) dem kreuzer. Aus Angst um ihre Familie in Syrien möchte sie lieber anonym bleiben. Im März verübten dschihadistische Gruppen Massaker an Alawiten, einer schiitischen Minderheit in Syrien. Die Islamisten töteten Hunderte Menschen. Hamdan, selbst Alawitin, habe viele Freundinnen und Freunde verloren. »Das weckt schmerzhafte Erinnerungen an die syrische Revolution von 2011, in der so viele Menschen ihr Leben verloren haben. Alles wiederholt sich, nur noch schlimmer.«
Anders als Hamdan hat Khorshid noch Vertrauen in die neue Regierung. Sie versuche wirklich, etwas zu schaffen, sagt er: »Jeder darf sich Sorgen machen, aber ich finde, es ist noch zu früh. Wir sind alle Syrer – wenn euch Unrecht geschieht, stehen wir zu euch.« Ola Aljari, die vor elf Jahren mit ihrem Mann nach Deutschland kam, warnt hingegen, dass der Konflikt weitergehe, wenn die Regierung jetzt den Minderheitenschutz nicht angehe. Doch für sie ist klar: »Wir haben angefangen, in die richtige Richtung zu gehen. Die Syrer geben sich nicht mit weniger als Demokratie zufrieden.«
Sehnsucht nach Normalität
Bis dahin bleibt allerdings viel zu tun. Sicherheit sei nun die oberste Priorität, sagt Khorshid. Nach 14 Jahren Blutvergießen wünschten sich die Leute einfach ein Ende, betont auch Hamdan. Als ein wichtiger Schritt dorthin könnte gelten, dass die neue Regierung zukünftig Minderheiten besser repräsentieren will, etwa durch die Ernennung einer christlichen Frau zur Ministerin. Doch Ola Aljari findet, das sei »nur eine Show für den Westen«. Auch Hamdan hält das nur für ein »schönes Bild«. Für Khorshid steht zunächst die Rückkehr zu Stabilität und Normalität im Vordergrund – als Voraussetzung dafür, dass Rechte von Minderheiten und Frauen künftig wirksam geschützt werden können. »Meine Mutter will ein normales Leben, gutes Essen, ein warmes Zuhause. Was bringt es, jetzt über diese Rechte zu sprechen?«
Internationaler Druck
Im Moment sind Grundbedürfnisse wie Wasser, Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf in Syrien gerade alles andere als selbstverständlich, berichten auch Aljari und Hamdan. Das liege auch an den Sanktionen westlicher Staaten gegen das alte Regime, sagt Khorshid. Sie träfen jedoch vor allem die Bevölkerung und erschwerten das tägliche Leben der Menschen. Umso unverständlicher, dass die Sanktionen mit der neuen Regierung weiterhin aufrechterhalten werden, findet er. »So fehlt das Geld für den Wiederaufbau, es steht alles still«, sagt auch Aljari. Dass die deutsche Regierung so schnell nach dem Sturz Assads von Rückführungen sprach, löste daher bei vielen Syrerinnen und Syrern Unverständnis und Angst aus. »Es ist weder möglich noch logisch, jetzt Menschen zurückzuschicken. Syrien ist zerstört«, sagt Aljari. »Wenn sich die Lage verbessert, dann können wir die Leute dafür begeistern, zurückzukehren. Aber jetzt ist das nicht möglich«, findet auch Khorshid.
In Leipzig zu Hause
Doch statt zurückzukehren, möchten viele sich lieber in ihrer neuen Heimat Leipzig einbringen. »Ich liebe die Stadt und will für immer hier bleiben«, sagt Khorshid: »Ich will etwas zurückgeben, sowohl meiner deutschen als auch der syrischen Community. Denn wir leben jetzt in Deutschland, es ist auch unser Land.«
Doch dass das Ankommen in Leipzig nicht einfach ist, zeigt Hamdans Geschichte. Sie kam bereits vor 2011 mit ihrem Mann nach Deutschland. Eigentlich wollten sie nur ein paar Jahre bleiben. Doch der Bürgerkrieg änderte alles. »Die ständige Angst um unsere Familien in Syrien war kaum auszuhalten«, erinnert sie sich. »Und gleichzeitig ging das Leben hier weiter. Irgendwann wurde mir klar, dass ich durch das andauernde Warten mein echtes Leben verpasse.« Heute bezeichnet sie Leipzig als ihr Zuhause, arbeitet im sozialen Bereich und studiert. Doch seit dem Massaker im März ist die Angst um ihre Verwandten in Syrien zurück.
Auch Aljari hat hier ein neues Zuhause gefunden. Die Stadt gefiel ihr wegen der Größe, dem Grün und den vielen jungen Leuten. Zunächst arbeitete sie hier als Journalistin. Nach der Geburt ihrer Kinder machte sie sich im Online-Marketing selbstständig: »Ich hoffe, dass wir in den nächsten Jahren Leipzig nicht verlassen werden. Wenn wir im Urlaub sind, vermissen wir die Stadt.«
Bürokratische Hürden und Unsicherheit
2023 lebten in Leipzig rund 14000 syrische Migrantinnen und Migranten. Für Khorshid Grund genug, 2025 für den Leipziger Migrantinnen- und Migrantenbeirat (LMB) zu kandidieren – mit Erfolg. »Viele fühlen sich hier wohl, aber eben nicht alle«, sagt er. Erst seit seiner Einbürgerung könne er die Stadt richtig genießen. Bis dahin dauerte es, trotz erfüllter Voraussetzungen, drei Jahre. Im LMB will er sich nun für eine zugänglichere Ausländerbehörde einsetzen. Denn die ständige Unsicherheit über die eigene Bleibeperspektive sei für viele psychisch belastend.
Auch Aljari kennt die deutsche Bürokratie. Oft würden Dokumente aus Syrien eingefordert, die unmöglich zu beschaffen seien. So bleibe ein in Leipzig geborenes Kind auch mal jahrelang ohne Geburtsurkunde. »Jeden Tag wachen wir auf und müssen Papierkram erledigen.« Und unter der neuen Regierung und ihrer verschärften Einwanderungspolitik werde die Situation nicht einfacher – im Gegenteil. Besonders Friedrich Merz‘ Vorschlag von Anfang des Jahres, man könne Straftätern mit Doppelpass die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen, beunruhigt Aljari: »Niemand ist mehr sicher. Selbst Menschen, die in Deutschland geboren wurden oder eine Staatsbürgerschaft haben. Wir fühlen uns wie Bürger zweiter Klasse«, berichtet Aljari. Und Khorshid sorgt sich, dass nun Aufenthaltsgenehmigungen pausiert werden könnten. Mit Blick auf erst kürzlich angekommene Syrerinnen und Syrier fragt er sich: »Wie sollen Menschen sich integrieren, wenn sie nicht wissen, ob sie bleiben dürfen?«
Was kann die Stadt tun? Der LMB sei bereits ein wichtiger Schritt, um die syrische Community besser ins politische Leben zu integrieren, sagt Hamdan. Sie und Aljari wünschen sich zudem mehr Sprachkurse, besonders für ältere Menschen und junge Mütter. Laut Hamdan spielt auch das Ehrenamt eine zentrale Rolle: Es helfe beim Knüpfen von Kontakten und eröffne berufliche Perspektiven. So auch bei Khorshid, der sich nach seiner Ankunft in Leipzig 2017 bei mehreren Vereinen engagierte und jetzt bei der Johanniter-Unfall-Hilfe ist. Nun plant er eine Weiterbildung, um seine bisherigen Erfahrungen im sozialen Bereich auch auf dem Papier vorweisen zu können.
Ans Weggehen denken die drei kaum. Und unabhängig davon, ob jemand bleiben oder gehen möchte, wünscht Hamdan sich Sicherheit und Akzeptanz für alle Syrerinnen und Syrer: »Sie sollen einfach leben dürfen.«