Hamburg – Auf den ersten Blick wirken die Mitglieder des Stammtisches der zweiten Leben wie ein Chor oder Kegelclub. Doch die Männer und Frauen an den gemütlichen Holztischen im Hamburger „Gasthaus Heimathafen“ verbindet ein schweres Schicksal: Damit sie leben können, muss ein anderer Mensch sterben.

11 Stammtisch-Mitglieder haben Spenderherzen, sechs neue Lungen. Vier weitere warten auf ein neues Herz, drei auf eine Lunge. Für niemanden unter den Gästen sind regelmäßige Herzschläge und Atemzüge eine Selbstverständlichkeit.

„Ich denke jeden Tag an meinen Spender“

Als die BILD-Reporterin zum Restaurant kommt, wird sie von den Initiatorinnen Dörthe Bruske (48) und Kati Möller (24) begrüßt. Beide haben ein Spenderherz und sagen, sie seien nach den Operationen mit ihren Ängsten allein gelassen worden: Der kräftige Puls des neuen Organs sei ungewohnt gewesen, fast erschreckend. So lebendig. So fremd.

Dörthe Bruske (48, li.) und Kati Möller (24) haben beide ein Spenderherz. Sie sind die Gründerinnen des Stammtisches für Herz-/Lungentransplantierte und Wartepatienten

Dörthe Bruske (48, li.) und Kati Möller (24) haben beide ein Spenderherz. Sie sind die Gründerinnen des Stammtisches für Herz-/Lungentransplantierte und Wartepatienten

Foto: Sybill Schneider

Die beiden tapferen Frauen direkt nach der Transplantation

Kati (rechts) hat am 25. September 2019 „Herzgeburtstag“. Sie hatte im Alter von zwei Jahren Blasenkrebs bekommen. Chemotherapie rettete ihr Leben, zerstörte aber ihr Herz. Mit 19 wusste sie nicht mehr, wie es sich anfühlt, gesund zu sein. Am 24. Dezember 2024 kam Dörthes schönstes Weihnachtsgeschenk: ein neues Herz! Sie sagt: „Alles begann 2021 – mit einem Husten. Ärzte stellten bei mir Sarkoidose fest. Eine seltene Entzündungserkrankung, die mein Herz langsam zerstörte.“

Foto: Sybill Schneider

Sie fanden sich über Instagram, gründeten den Stammtisch. Zusammen wurde ihnen klar: Dieses Herz schlägt für mich. Kati Möller: „Ich denke jeden Tag an meinen Spender. Durch ihn erfahre ich wundervolle Momente. Ich kann reisen und Konzerte besuchen.“

Wie lebt es sich mit fremden Herzen? „Gar nicht komisch“, erklären beide. „Wir sind zusammengewachsen. Es hat uns nicht verändert. Nur stärker gemacht.“

Ein Spenderherz hält zehn, vielleicht 15 Jahre

Das rustikale Restaurant am Hamburger Baumwall in der Nähe des Hafens haben sie bewusst als Treffpunkt gewählt: Das dunkle Holz und das traditionelle Essen lassen alle für einen Moment die kalte und klinische Atmosphäre der Krankenhäuser vergessen, in denen alle so viel Zeit verbringen.

Renate Gladasch (57) steht auf der Warteliste für ein neues Herz. Bis es so weit ist, hält sie ein eingebauter Defibrillator am Leben: „Der Rekord war, dass er an einem Tag sechsmal auslösen musste“

Renate Gladasch (57) steht seit März auf der Warteliste für ein Spenderherz. Bis es so weit ist, halten sie ein Herzschrittmacher und ein implantierter Defibrillator am Leben. Sie sagt: „Der Rekord war, dass der Defi an einem Tag sechsmal auslösen musste.“ Die meiste Zeit verbringt sie erschöpft auf dem Sofa – und wartet. „Meine Krankenhaustasche ist schon gepackt. Ich hoffe jeden Tag auf den Anruf, der mein Leben rettet.“

Foto: Sybill Schneider

Nachdem sich die BILD-Reporterin an einen Tisch gesetzt hat, fragt sie fast jeder Neuankömmling: „Bist du Herz oder Lunge?“

Alle Anwesenden wissen: Ein Spenderherz hält nicht ewig. Zehn, vielleicht 15 Jahre. Manchmal auch 20 oder mehr. Dann fragt eine Teilnehmerin: „Haste hier jemanden gefunden, der länger als 13,5 Jahre durchgehalten hat? So lange hält mein Herz schon. Länger hat’s hier wohl keiner geschafft.“

Tino Brähler (22) hatte eine Herzmuskelentzündung so lange verschleppt, bis er eine Transplantation brauchte

Tino Brähler (22) bekam am 11. Januar 2025 ein neues Herz. Er hatte 2023 eine Erkältung verschleppt, danach eine Herzmuskelentzündung nicht bemerkt

Foto: Sybill Schneider

Hier zählt niemand wirklich Jahre – hier zählen Momente. Kati Möller: „Ich genieße jeden Tag, lebe viel bewusster.“ Das macht auch Dörthe Bruske: „Ich schiebe nichts mehr auf.“

Transplantierte müssen täglich Medikamente nehmen

Trotz des traurigen Anlasses ist die Stimmung gut. Renate Gladasch (57): „Es tut gut, diese fröhlichen und optimistischen Menschen zu treffen, die die große OP hinter sich haben. Das nimmt mir die Angst.“ Sie wartet auf ein Herz.

Das neue Organ ist ein Geschenk – aber auch eine Aufgabe. Transplantierte müssen täglich Immunsuppressiva nehmen, damit ihr Körper das Spenderorgan nicht abstößt. Besonders in den ersten Monaten ist das Risiko hoch. Dazu kommen regelmäßige Blutentnahmen, Biopsien, Herzkatheter, Krebsuntersuchungen.

Die Stammtischteilnehmer tauschen sich aus, machen sich gegenseitig Mut

Die Stammtischteilnehmer tauschen sich aus, machen sich gegenseitig Mut

Foto: Sybill Schneider

In der fröhlichen Runde machen sich alle Mut. Es wird gelacht und angestoßen. Nur wenige trinken Bier, weil Alkohol sich nicht immer mit den Medikamenten verträgt.

Viele trinken Cola – aber ohne Eiswürfel. Keimgefahr! Kaffee bestellt keiner. In Vollautomaten sind häufig Pilze, die für die Teilnehmer tödlich sein könnten.

Rabea Schacher (45) geht es mit neuer Lunge so gut, dass sie wieder dreimal pro Woche zum Sport gehen kann

Rabea Schacher (45) lebt seit dem 11. Mai 2023 mit einer neuen Lunge. Ihr geht es mit dem Organ so gut, dass sie wieder dreimal pro Woche zum Sport gehen kann

Foto: Sybill Schneider

Gegessen wird rustikal. Es gibt Schnitzel oder Pannfisch (Hamburger Spezialität, Red.) mit Kartoffelsalat und Bratkartoffeln. Alle wenden sich an die Kellner: „Bitte ohne Salatgarnitur servieren, das dürfen wir nicht.“

Auch in Salat könnten Keime sein. Das Immunsystem der Gäste ist geschwächt. Das heißt: Rohes Gemüse, ungeschältes Obst oder Sushi sind verboten. Jeder Keim kann tödlich sein.

Drei Stammtisch-Teilnehmer warten auf eine Spenderlunge

Als es während der Mahlzeit leise an den Tischen wird, ist ein gleichmäßiges Zischen zu hören. Es erinnert daran, dass es hier drei Menschen gibt, die noch auf eine Lunge warten. Zwei davon werden nonstop über Geräte beatmet.

Auch Mehmet Koykac (39) braucht dringend eine Organspende – sonst kommt er nicht mal mehr 100 Meter weit. „Meine Lebensqualität ist gleich null. Das Leben zieht an mir vorbei, und ich bin nur noch Zuschauer“, sagt er. Vor zehn Jahren begann alles mit einer schweren Lungenentzündung.

Die Lunge von Mehmet Koyhac (39) arbeitet nur noch mit 15 Prozent

Mehmet Koykac (39) wartet auf ein Spenderorgan. In den letzten fünf Jahren arbeiteten seine Lungen nur noch mit 20 Prozent – jetzt sind es gerade mal 15

Foto: Sybill Schneider

Es bildete sich ein Abszess, ein Teil seines Lungenlappens musste entfernt werden. Danach bekam er immer neue Infektionen. Seine Lungen arbeiten nur noch mit 20 Prozent. Immer wieder gerät er in lebensbedrohliche Zustände.

Seit August 2024 steht er auf der Warteliste: „Keine leichte Entscheidung – so eine gespendete Lunge hält nicht ewig. Aber ich will endlich wieder richtig atmen können.“

Am Stammtisch schöpfen sie Mut

Der rustikale Gasthof ist für alle Stammtisch-Mitglieder ein Ort, an dem sie Mut schöpfen können und erfahren: Du bist nicht allein!

Die Frauen und Männer unterhalten sich nicht über Wehwehchen und Probleme, sondern über Lösungen: Wie kann man Lebensmittel so zubereiten, dass man sie doch essen kann? Wann trifft man sich wieder? Was kann man noch zusammen unternehmen? Ela Kawohl (63, neue Lunge) hat das bei anderen Patiententreffen in weniger lockerer Umgebung schon ganz anders erlebt: „Da sind dann alle negativ, erzählen, was alles nicht geht und furchtbar ist. Wir freuen uns hier darüber, was alles wieder geht.“

Ela Kawohl (63) kann dank neuer Lunge das Leben wieder genießen

Ela Kawohl (63) glaubte zuerst, der Stress als Kinderärztin mache sie schlapp. Dann bekam sie die Diagonse COPD (eine chronische Lungenerkrankung). Sie hat seit 2024 eine neue Lunge

Foto: Sybill Schneider

Das nächste Treffen steht auch schon fest: Am 7. September treffen sie sich auf einer Barkasse, machen eine Bootstour auf der Alster.

Sie hoffen, dass sich mehr Spender registrieren lassen

Bis dahin teilen alle einen großen Wunsch: Dass sich mehr Menschen als Spender registrieren lassen.

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In Deutschland warten rund 8500 Menschen auf ein Organ – und jeden Tag sterben drei von ihnen, weil sie nicht rechtzeitig eines bekommen. 

Alle Infos zum Thema Organspendeausweis gibt es unter www.organspende-info.de.