Machtmenschen aus Russland sind gegenwärtig alles andere als wohlgelitten. Aber wenn einer der Mächtigsten schon 300 Jahre lang tot ist, darf man ihn in den Vordergrund rücken. Schließlich gilt er gemeinhin wie kein Zweiter als die bestimmende Kraft, die der russischen Geschichte den Weg zu einer Großmacht im Ostseeraum gewiesen hat.

Er öffnete das Fenster gegen den Westen, wie es immer heißt. Aber das Fenster hatten bereits seine Vorgänger geöffnet, er riss es nun weit auf, ließ westliche zivilisatorische Errungenschaften, Kultur, Wissenschaft, Handwerkskunst ein zur Erweiterung und Bereicherung der vorhandenen russischen Tradition.

Er hat Russland maßgeblich verändert, indem er rücksichtslos Kriege geführt, Aufstände niedergeschlagen, das Volk und vor allem die Eliten mit einer Unmenge an Gesetzen und Erlassen in Reformen getrieben, eine neue Zeitrechnung eingeführt und die gesamte Verwaltung des Landes in eine neue, zeitgemäße Struktur überführt hat. Und schließlich hat er mit der Gründung von St. Petersburg dem Land noch eine neue Hauptstadt beschert.

Einen solch umtriebigen Herrscher hat Russland weder vor noch nach ihm erlebt. Er nahm das voll Selbstbewusstsein vorweg, weshalb er sich 1721 selbst zum Kaiser krönte und schon zu Lebzeiten „der Große“ nannte. Bis heute wird in populären Biografien nahezu ausnahmslos dieser Beiname übernommen, wovon Martina Winkler in ihrer neuen, akribischen Darstellung des Zaren dezidiert abrückt: Die Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Kiel verweist auf das durchweg uneinheitliche Gesamtpanorama der petrinischen Regierungszeit – und auf den Missbrauch einer vermeintlichen „Heldengestalt“ für politische Propagandazwecke unter dem „Peter-Verehrer“ Wladimir Putin.

Indes, groß als Erscheinung war der Hüne Peter Alexejewitsch I. mit seinen fast zwei Metern Körperlänge zweifellos. 1672 als Sohn des Zaren Alexei I. in die erst 1613 an die Macht gelangte Herrscherdynastie der Romanows hineingeboren, wurde er bereits als Zehnjähriger Mitregent an der Seite seines älteren Halbbruders Iwan V. und ab 1689, nach einem Machtkampf mit der Halbschwester Sophia, Alleinherrscher.

Aufstieg zur Seemacht

Als er den Thron bestieg, galt Russland im westlichen Europa noch immer als unergründlich rückständig: als ein Land, das sich „in Sitten, Einrichtungen, Gottesdienst und Kriegszucht ganz von uns unterschied“, wie es der habsburgische Diplomat Sigismund von Herberstein bereits 1517 und 1526 auf seinen Reisen notiert hatte. Das verlangte nach gründlicher Remedur, und Peter packte sie an. Als Erstes musste mit dem Bau einer Flotte die maritime Macht des Landes gesichert werden. Der junge Herrscher hatte 1695/96 in zwei Feldzügen versucht, die osmanische Festung Asow zu erobern, um dem russischen Reich den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern. Doch die Osmanen erwiesen sich letztlich als beharrlicher, und der Zar wandte sich mit seinen Seemachtsambitionen nunmehr dem Norden zu. Dort hatten die Schweden eine Vormachtstellung inne, die es zu brechen galt.

Ab 1697 wurden in ganz Europa Schiffsbauer und weitere Fachleute für die Seefahrt gesucht. Peter selbst brach mit einer umfangreichen Entourage, der „Großen Gesandtschaft“, nach Westeuropa auf, um sich, teilweise inkognito, in Preußen, den Niederlanden und England in die modernsten technischen und administrativen Errungenschaften einführen zu lassen. In Amsterdam begann er im Sommer 1697 sogar eine Zimmermannslehre, so stark war das persönliche Engagement des Zaren für die Seefahrt. Mit viel ausländischer Fachkenntnis, inländischem Steuerdruck und massenhafter Zwangsarbeit wurde fortan in den russischen Werften der Flottenbau vorangetrieben.

Neue Oasen des Wissens

Russland brach unter dem vor Reformeifer glühenden Zaren in die Moderne auf. „Peter pflegte die Neugier als Element eines neuen Herrschaftsentwurfs und als Bestandteil einer neuartigen Gesellschaftlichkeit“, schreibt Winkler. Besonders beeindruckt war der reisende Zar von der Wissenskultur, der er im Westen begegnet war. Seine forcierte Einrichtung von Kollegien, Gymnasien, Akademien und Universitäten wirkte wie die Öffnung von Oasen in einer bisherigen Bildungswüste, wobei für ihn die soziale Nützlichkeit als Maxime galt. Der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte ein Bildungskonzept, das dann in die Gründung einer Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg mündete.

„Russland holte auf“, schreibt Winkler. „Die fundamental konservative Haltung des Moskauer Reiches, die sich auf den Erhalt des Bestehenden, insbesondere von Recht, Ordnung und Glauben, bezog, wurde nach und nach überlagert von einer Politik der Veränderung.“

Für sein weitsichtiges Anliegen, den Einfluss des Osmanischen Reichs zurückzudrängen, hatte der Zar an den europäischen Höfen – auch in Wien bei Kaiser Leopold I. – keine Unterstützung gefunden. Umso stärker richtete sich sein Augenmerk auf die Ostsee als Schlüsselregion seines machtpolitischen Ehrgeizes.

Im Großen Nordischen Krieg, den Peter 1700 im Bündnis mit Polen und Dänemark begonnen hatte, rang Russland über zwanzig Jahre lang um die Vormacht im Ostseeraum. Anfangs fügte der junge Schwedenkönig Karl XII. der russischen Armee im Gegenstoß kräftige Niederlagen zu, doch der Sieg Peters über die Schweden und die mit ihnen verbündeten Kosaken 1709 bei Poltawa in der Ukraine brachte eine entscheidende Wende. Indes, erst nach dem Tod Karls XII. 1718 und dem Friedensschluss von Nystadt 1721 gelangten die baltischen Provinzen Livland, Estland, Ingermanland und Teile von Karelien offiziell an Russland.