Satt, zufrieden, selbstgerecht – träge, langsam, uninspiriert: Ich kann es ehrlich gesagt nicht mehr hören, wie vielerorts über unsere Stadt gesprochen und geschrieben wird. Berlin, das möchte ich an dieser Stelle betonen, ist mehr, als es momentan den Anschein hat. Vor allem kann unsere Stadt aber sehr viel mehr, als sie aktuell leistet! Doch bevor ich meine Gedanken dazu teile, lassen Sie mich zunächst kurz zurückschauen.

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Ziemlich genau 20 Jahre ist es her, als mich die Hauptstadt rief. Nach meinem Engagement als Handballtrainer in Hamburg saß ich praktisch auf der Straße. Kein Job, keine Aufgabe. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ein schreckliches Gefühl. Dann, plötzlich, eröffnete sich die Option der Reinickendorfer Füchse Berlin. Die große Zeit des Klubs in den 1980er-Jahren, als er im Europacup mitgemischt hatte, war längst vorbei, der Verein dümpelte inzwischen ohne Hoffnung und ohne Vision in der zweiten Liga herum – doch es war die Stadt mit ihrem unstillbaren Pioniergeist und mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten, die mich als Essener, der zuvor keine Verbindung zu Berlin hatte, in ihren Bann zog.

Alter Schuhkarton mit unbezahlten Rechnungen

In der alten Geschäftsstelle – ich erinnere mich genau – stand lediglich ein alter Schuhkarton, darin unbezahlte Rechnungen, das war alles. Doch wir hatten die Vision von einem Handball-Klub, der um Titel und Triumphe kämpft, der genauso ein Zuhause für die weltbesten Sportler bietet wie für vereinseigene Talente. Und es gab diese Stadt, die mit ihrer Offenheit, ihrer Spontaneität und ihrer Unangepasstheit für all diese wilden Träumereien einen perfekten Rahmen bot.

Bob Hanning ist Geschäftsführer der Reinickendorfer Füchse und Handball-Nationaltrainer von Italien.

Das Ende ist bekannt. Jetzt, zwei Dekaden später, liest sich unsere Geschichte wie ein postmodernes Sportmärchen. Dank innovativer Ideen und mutiger Entscheidungen, dank entschlossener Politiker und begeisterungsfähiger Unternehmer sind wir mit den Füchsen heute mehrfacher Vereinsweltmeister und Europacupsieger. Unsere Spieler laufen für Nationalmannschaften auf, wir kämpfen in den Frühjahrswochen 2025 national in der Meisterschaft und international in der Champions League um Platz eins. Aus Vision wurde Wirklichkeit. Das, und da bin ich mir sicher, war nur hier möglich. Danke, Berlin!

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Schaue ich mir das aktuelle Geschehen in unserer Stadt an, kann ich allerdings nur mit dem Kopf schütteln. Kein Plan, keine Vision, kein Konzept – der Patient Hauptstadt liegt auf der Intensivstation. Wo ist der Mut, der uns nach vorn gebracht hat? Wo ist die Entschlossenheit, die uns jahrelang ausgezeichnet hat? Überall Verzagtheit, überall Probleme, überall Überforderung – und dazu eine um sich greifende Kapitulation.

Glauben Sie mir: Das Gerede von einer Vision 2030 allein wird keine Besserung schaffen. Wir müssen jetzt schon wissen, wo wir 2040 hinwollen und das ganze Thema dabei in Etappen angehen. Die großen Ziele müssen von hinten raus gedacht werden. Dafür brauchen wir dringend mehr Wagnis und dringend mehr Engagement, und zwar in allen Bereichen. Politik, Bevölkerung und Wirtschaft sind gleichermaßen gefordert, zukunftsgerichtete Diskussionen gemeinsam anzustoßen, um dann schnelle Veränderungen entschlossen herbeizuführen.

Mehr Musk für Berlin?

Wir brauchen eine neue Hands-on-Mentalität, die auf schnelle Erfolge ausgelegt ist. Das Erreichen von Basics, also gewissen Mindeststandards, wie von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner als Ziel formuliert, ist wichtig. Keine Frage. Mittel- bis langfristig ist Mittelmäßigkeit aber der Tod für unsere Stadt. Es kann nicht sein, dass unsere Behörden monatelang für die Ausstellung eines Reisepasses brauchen, dass die Modernisierung einer Autobahn Jahrzehnte in Anspruch nimmt, nur weil von der Feuerwehr bis zur Baubehörde, von Umweltaktivisten bis zu Lärmschutzexperten alle mitreden wollen.

Halten Sie mich in diesem Punkt gern für verrückt: Aber warum holen wir uns nicht noch viel stärker die großen Unternehmen mit ins Boot? Sie verfügen über finanzielle Mittel und den dringend benötigten Pragmatismus. Schauen wir doch mal rüber nach Amerika. Der politischen Agenda von Elon Musk kann ich nichts Positives abgewinnen und ich teile dessen Ansichten nicht. Was ich aber sehr wohl als nachahmenswert empfinde, ist die Tatsache, wie sich ein Multimilliardär aus der Tech-Branche dazu bekennt, sich gegen viele Widerstände politisch zu engagieren. Natürlich sind solche Engagements von einzelnen Wirtschaftsbossen oder florierenden Welt-Unternehmen immer zwangsläufig auch auf Kommerz und Gewinne ausgerichtet. Doch, wenn dies unterm Strich zum Wohle unserer Stadt und unseres Landes beiträgt? Warum nicht?

Serie „Berlin 2030“

In unserer Serie „Berlin 2030“ wollen wir konstruktive Lösungen für die Herausforderungen der Hauptstadt finden und dabei helfen, positiv in die Zukunft zu schauen. Dafür sprechen wir mit Vordenkerinnen und Visionären, mit Wirtschaftsvertretern, mit Kulturschaffenden, mit Stadtplanern, mit Wissenschaftlerinnen und Politikern.

In Gastbeiträgen fragen wir sie nach ihrer Vision für Berlin. Wie soll Berlin im Jahr 2030 aussehen? Welche Ideen haben sie für die Zukunft unserer Stadt? Und welche Weichen müssen dafür jetzt gestellt werden?

Die Beiträge der Serie stammen unter anderem von Kai Wegner, Renate Künast, Sigrid Nikutta, Ulrike Demmer, Tim Raue, Mo Asumang und Christian Schertz. Alle bisher erschienen Beiträge finden Sie hier.

Am 28. April ab 19.30 Uhr stellen wir die Vorschläge aus der Serie in einer Veranstaltung mit Podiumsdiskussion im Deutschen Theater vor. Tickets gibt es unter veranstaltungen.tagesspiegel.de.

Sie haben auch eine Idee? Schicken Sie uns Ihre Vorschläge an: checkpoint@tagesspiegel.de.

Meine persönliche Vision für die Zukunft Berlins ist – daraus mache ich kein Geheimnis – die Austragung Olympischer und Paralympischer Spiele. Sommerspiele 2036 oder 2040 unterm Brandenburger Tor wären nach Jahren der Stagnation ein klares, längst überfälliges Bekenntnis. Ein Bekenntnis zum Leistungssport! Ein Bekenntnis zum Breitensport! Und sie wären darüber hinaus auch eine riesengroße Chance für ein neues Miteinander in unserer Gesellschaft.

Ganz abgesehen von Olympia: Gerade jetzt, wo wir dank des geplanten Sondervermögens und neuer Schulden von historischem Ausmaß so viel Geld wie nie in die Haushalte pumpen, muss auch der deutsche Sport profitieren. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur Förderung der Sportinfrastruktur – was sowohl dem Breiten- als auch dem Spitzensport zugutekommen würde. Das gilt für Deutschland im Großen, und für Berlin im Kleinen.

Schauen Sie sich nur unseren Olympiastützpunkt in Hohenschönhausen an. Unser geliebtes Sportzentrum, wo Spitzensport gezielt gefördert werden soll, wo Olympiasieger von morgen geformt werden, ist längst ein Sanierungsfall – damit aber nur ein Beispiel von Hunderten in Deutschland. Wie sollen sich Kinder und Jugendliche für den (Leistungs-)Sport begeistern, wenn die Sportanlagen zerfallen oder seit Jahren vor sich hin schimmeln? Reden wir von der Vision Olympischer Spiele, sprechen wir gleichzeitig auch vom Ziel eines funktionierenden Sportsystems, das dringend eines langfristigen Förderprogramms bedarf.

Investiert in Sport. Investiert in Bildung!

Noch viel wichtiger wird es aber sein, parallel das Thema Bildung voranzutreiben. Es gibt – und das möchte ich betonen – kein nachhaltigeres Investment für eine gelingende Zukunft, als in unseren Nachwuchs zu investieren. Die vernünftige und ganzheitliche Ausbildung unserer Kinder und Jugendlichen muss über allem stehen. Nur so wird unser Land und unsere Stadt in ihrer jetzigen Form fortbestehen. Eine gebildete, tolerante und inklusive Bevölkerung ist entscheidend für eine funktionierende Demokratie, für Innovation und sozialen Zusammenhalt.

Und damit zurück zu den Füchsen Berlin. Wir haben den Bereich Bildung auch bei uns als großes Thema der Zukunft erkannt und basteln daraus unsere nächste Vision. Zusammen mit dem Bildungsträger Interaktiv wollen wir Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Schichten – und mit ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen – künftig neue Perspektiven eröffnen. Mit dem Aufbau nachhaltiger Schulstrukturen mit Sport- und Bewegungsfokus im offenen Ganztag sollen Teilhabe und Integration in unserer Stadt verstärkt werden. Auf diese Weise wollen wir stetige Bildungserfolge für Berlin erzielen, und nebenbei ein noch breiteres Fundament für eine erfolgreiche Zukunft der Füchse legen.

Mehr Visionen für Berlin 2030 BR-Volleys-Manager Kaweh Niroomand „Olympische und Paralympische Spiele hier in Berlin“ Mona Rübsamens Vision für Berlin 2030 „Die ‚15-Minute-City‘ wird Realität“ Stephan Schwarz’ Vision für Berlin 2030 „Berlin muss attraktiv bleiben für die besten Köpfe aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur“

Ja, die Herausforderungen sind aktuell an allen Ecken und Enden riesig. Doch denke ich zurück an den alten Schuhkarton mit den unbezahlten Rechnungen von vor 20 Jahren, spüre ich auch Zuversicht. Was wir jetzt brauchen, sind Visionen! Und mit ihnen Menschen, die sich dafür einsetzen.