Es war dieser eine Moment, auf den alle gewartet hatten. Montagabend, Punkt 21.33 Uhr. Die Sonne senkte sich exakt in die Fluchtlinie der Ludwig-Wucherer-Straße, tauchte die Szenerie in warmes, fast surreales Licht – und dann, genau dann, schob sich ein ganz besonderer Triebwagen langsam den Hügel hinauf: Triebwagen Nr. 4, ein über 130 Jahre alter Oldtimer aus dem Jahr 1894. Ein Hauch von Nostalgie, ein bisschen Kalifornien – und ein ganz großes Stück Halle.
Was sich am Montagabend in Halles Norden abspielte, war weit mehr als ein Sonnenuntergang. Es war ein Stadtmoment zum Verlieben – inszeniert mit Licht, Geschichte und der Leidenschaft vieler Menschen, die Halle mit offenen Augen sehen. Und die wissen: In wenigen Tagen im Juni, zur Sommersonnenwende, verwandelt sich die „LuWu“ – wie die Ludwig-Wucherer-Straße im Volksmund liebevoll genannt wird – in eine leuchtende Bühne.
Magische Minuten auf Schienen
Schon lange vor Sonnenuntergang herrschte gespannte Vorfreude: Dutzende Fotograf*innen, ausgerüstet mit Stativen, Kameras, Drohnen oder einfach nur ihren Smartphones, drängten sich oben auf dem Plateau unweit vom Steintor. Von hier hat man den perfekten Blick die abschüssige Straße hinunter – Richtung Reileck, Richtung untergehende Sonne. Die Fahrleitungen der Straßenbahn glitzerten im schrägen Licht, die Fassaden der Gründerzeithäuser leuchteten in Gold und Orange.
Und dann kam sie. Langsam, beinahe feierlich schob sich die historische Straßenbahn bergauf. Ihre Fenster und die eisernen Schienen spiegelten das Sonnenlicht, die Metallteile glänzten wie poliert, während sich der Triebwagen auf den letzten Metern des Anstiegs durch die Menge fotografischer Blicke kämpfte. Ein bewegtes Bild – im doppelten Sinn.
“SanFranLuWu”: Ein neuer Stadtkult
Der Moment, in dem die Sonne direkt mittig in der Straßenachse untergeht, ist in Halle längst kein Geheimtipp mehr. Alljährlich zur Zeit der Sommersonnenwende zieht es Schaulustige und Lichtjäger auf die LuWu. Denn das Zusammenspiel aus der abschüssigen Topografie, der Straßenbahntrasse und der Westausrichtung erzeugt eine Lichtstimmung, wie man sie sonst eher aus amerikanischen Metropolen kennt.
„Ich sag nur SanFranLuWu“, schrieb Halles Fotograf und Szene-Kenner Enrico Seppelt am späten Abend auf Social Media – dazu ein Foto, das wie eine Postkarte aus einer anderen Welt wirkt: goldenes Licht, historische Bahn, funkelnde Gleise. „Perfekter Moment, entspannte Stimmung, schöner Abend! Danke Stadtwerke Halle & Hallesche Straßenbahnfreunde e.V. – hat alles gepasst.“
Tatsächlich wirkte die Szene wie eine filmreife Kulisse: Oben die Silhouetten der Fotografen, unten die leuchtende Allee, durchzogen von Schienen. Das Bild erinnerte an die berühmten Cable Cars von San Francisco – und so wurde aus der LuWu kurzerhand “SanFranLuWu”.
Technik trifft Emotion – möglich gemacht durch Leidenschaft
Hinter dem Moment steckte auch in diesem Jahr wieder viel Organisation: Die Hallesche Verkehrs-AG (HAVAG) und der Verein Hallesche Straßenbahnfreunde sorgten dafür, dass der historische Triebwagen nicht nur rollte, sondern pünktlich zur goldenen Stunde über die Gleise schwebte. Dafür wurde der reguläre Straßenbahnverkehr zeitweise umgeleitet – etwa anderthalb Stunden lang gehörten die Gleise allein dem Spektakel.
Und auch das Publikum spielte mit: Rücksichtsvoll, begeistert, aber respektvoll versammelte man sich entlang der Strecke. Manche saßen auf Bordsteinen, andere lehnten an Fahrrädern, viele wechselten immer wieder den Standpunkt, um „den einen Schuss“ zu bekommen.
„Das ist so eine schöne Tradition“, sagt eine ältere Hallenserin, die sich mit ihrer Enkelin den Sonnenuntergang angeschaut hat. „Man spürt richtig, wie stolz alle auf ihre Stadt sind.“ Selbst Landtagsabgeordnete schauten vorbei – so Marco Tullner (CDU) und Sebastian Striegel (Grüne).
Noch ein paar Abende bleibt es magisch
Wer das Schauspiel verpasst hat: Keine Sorge! Noch bis etwa Ende Juni steht die Sonne genau so, dass sie mit der Ludwig-Wucherer-Straße eine perfekte Linie bildet – vorausgesetzt, das Wetter spielt mit. Allerdings dann ohne die historische Bimmel.