„Half-Life“ und „Civilization“ fehlen – dafür ist „Bejeweled“ dabei: Ein Buch versammelt 50 zentrale Computerspiele. Es ist weniger eine Hitliste, sondern eine Einladung zum Streit. Und genau das macht seinen Wert aus.
Von Christian Schiffer, BR
Ein Klempner mit roter Mütze, der auf Schildkröten springt. Eine gelbe Scheibe, die durch neonleuchtende Gänge schmatzt. Ein pixeliger Piraten-Slacker, der per Mausklick nach Rum, Rätseln und Pointen sucht. Wer ein Buch mit dem Titel „Computerspiele – 50 zentrale Titel“ aufschlägt, rechnet vermutlich mit genau solchen Klassikern. Also mit dem, was man als kollektives Gedächtnis digitaler Spiele betrachten könnte – oder mit dem, was seit Jahrzehnten auf jeder zweiten „Best of“-Liste zirkuliert.
„Everything“ ist dabei, „Civilization“ fehlt
Doch das von Daniel Martin Feige und Rudolf Inderst herausgegebene Werk verfolgt ein anderes Ziel – und trifft damit einen Nerv. Zwar fehlen Ikonen wie „Half-Life“, „Sim City“ oder, sehr mutig, „Civilization“. Aber das ist eine produktive Provokation. Denn nicht die üblichen Best-of-Rituale sollen bedient, sondern ein Diskurs eröffnet werden: darüber, was Relevanz im Medium Spiel eigentlich heißt – jenseits von Verkaufszahlen, Franchise-Wumms oder Retro-Seligkeit.
Natürlich sind Klassiker wie „Pong“, „Doom“ oder „Monkey Island“ vertreten. Doch daneben finden sich auch mutige und erfreulich schräge Entscheidungen. Etwa „Everything“, ein Spiel, in dem man sich in buchstäblich alles verwandeln kann – vom Atom bis zum Galaxienhaufen. Oder „The Binding of Isaac“, das Kindheitstraumata in Roguelike-Mechaniken übersetzt. Und dann ist da „Ingress“, ein Augmented-Reality-Spiel, das urbane Räume neu vermisst und die Grenze zwischen Spielwelt und Wirklichkeit bewusst unscharf zieht.
Kleine Spiele, große Wirkung
Und: „Bejeweled“. Was zunächst wie ein harmloses Puzzle-Spiel aussieht, entpuppt sich im Band als kulturhistorisch bedeutender Titel – nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Zugänglichkeit. Das einfache Prinzip des „Drei auf einen Streich“-Tauschens legte Anfang der 2000er-Jahre den Grundstein für das, was später als „Casual Games“ eine ganze Branche verändern sollte. Mit „Bejeweled“ erreichte das Spielen Zielgruppen, die zuvor kaum als Gamer galten – etwa Mütter, Rentner oder Berufstätige in der Mittagspause. Die Mechanik war simpel, die Einstiegshürde niedrig, der Reiz dafür umso größer. Der Essay zu dem Puzzle-Spiel skizziert nicht nur den wirtschaftlichen Siegeszug, sondern ordnet das Spiel auch in größere Debatten über Spielertypen, Gender-Stereotype und die bis heute anhaltende Geringschätzung sogenannter Casual Games ein.
Eine Einladung zur Auseinandersetzung
Gerade solche Titel zeigen: Dieser Band ist keine Sammlung von Konsensmeinungen. Er ist eine Einladung zur Auseinandersetzung. Mindestens so spannend wie das, was aufgenommen wurde, ist das, was fehlt – und das, was durch die Lücken sichtbar wird. Ein Kanon ist nie neutral, auch wenn er sich manchmal so gibt. Wer auswählt, schafft Bedeutung. Und lädt zum Widerspruch ein. Dass man beim Lesen also gelegentlich denkt: Moment mal – „Sim City“ nicht, aber „Braid“ schon?! Das gehört dazu. Das muss sogar so sein.
Denn Spiele lassen sich nicht so einfach klassifizieren wie Literatur oder Film. Die Bandbreite ist enorm – von narrativen Rollenspielen bis zu minimalistischen Puzzle-Games, von Ego-Shootern bis zu sozialen Simulationen. Ein „Disco Elysium“ lässt sich kaum mit einem „FIFA“ vergleichen – und doch gehören beide zur gleichen kulturellen Form. Genau dieser Widerspruch zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Ein wissenschaftlicher Blick aufs Spiel
Die Beiträge, verfasst von Kulturwissenschaftlern, Philosophen, Historikern, Journalisten und Entwicklerinnen, setzen ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Nicht technische Innovationen oder Umsatzrekorde stehen im Vordergrund, sondern die Frage: Was erzählt ein Spiel über unsere Zeit, über uns und über sich selbst?
In seiner Anlage steht der Band damit in einer Reihe mit aktuellen Versuchen, das Medium Spiel kulturell und wissenschaftlich ernst zu nehmen. Museen wie das MoMA oder das ZKM widmen Games eigene Ausstellungen, Archive wie das Deutsche Literaturarchiv Marbach sammeln sie systematisch, Universitäten richten Professuren für Game Studies ein. Auch dieser Band ist aus einem akademischen Kontext hervorgegangen – und das merkt man.
Wer auf Anekdoten oder bunte Bilder hofft, wird enttäuscht. Die Texte sind nüchtern, gelegentlich voraussetzungsreich, manchmal etwas trocken – aber eben auch erkenntnisreich. Sie zeigen: Spiele sind nicht bloß Unterhaltung, sondern Narrative, Ästhetik, Simulation – und gelegentlich Gesellschaftskritik.
Kein Abschluss, sondern ein Anfang
Ein endgültiger Kanon? Wird sich wohl nie durchsetzen lassen. Vielleicht ist das Medium zu jung. Vielleicht aber auch zu lebendig, zu vielstimmig, zu widersprüchlich. Und so ist dieser Band kein Abschluss, sondern ein Anfang. Kein Katalog, sondern ein Gesprächsangebot.
Ein Kanon der Perspektiven und damit ein Buch, das weniger sagt: „Das sind die wichtigsten Spiele“. Sondern eher fragt: „Was ist dir eigentlich wichtig an einem Spiel?“
Christian Schiffer, BR, tagesschau, 25.06.2025 10:08 Uhr