Abor & Tynna im ESC-Finale 2025 – Foto: Sarah Louise Bennett / EBU
Seit der Aufhebung der Sprachregelung beim Eurovision Song Contest 1999 schickten zunächst immer mehr Länder Beiträge auf Englisch zum Wettbewerb. Spätestens mit dem Sieg von Salvador Sobral 2017 kippte aber die Stimmung und immer mehr Lieder wurden auf Landessprache vorgetragen – und sie waren damit erfolgreich. Deutschland traute dem Trend nicht so recht. In Basel bewiesen nun Abor & Tynna (Aufmacherbild), aber auch Erika Vikman, dass Deutsch als Sprache genauso gut funktionieren kann – wenn der Song und die Inszenierung stark sind und die Interpret*innen über Charisma verfügen.
Deutschsprachige Lieder, so hat man oft den Eindruck, sind nicht mal mehr in den drei DACH-Ländern gefragt. Schaltet man das Radio ein, dudeln einem dieselben internationalen Hits und Oldies entgegen wie überall auf der Welt. Ein paar Popstars schaffen es zwar immer mal mit deutschen Texten, aber ansonsten muss man in der Nische suchen oder sich zum Schlager oder Ballermann-Trash bekennen. Wie soll ein Land unter diesen Umständen dann selbstbewusst einen Beitrag mit deutschem Text zum ESC schicken?
Tatsächlich traute sich Österreich 2012 das letzte Mal mit „Woki mit deim Popo“ von den Trackshittaz mit einem deutschsprachigen Titel zum ESC – und landeten mit 8 Punkten auf dem letzten Platz – im Halbfinale. Die Schweiz hat es seit Aufhebung der Sprachregelung kein einziges Mal auf Deutsch versucht. Vielleicht kein Wunder, denn 1998 wurde Gunvor mit „Lass ihn“ und null Punkten Letzte. Geringfügig besser lief’s für den letzten deutschsprachigen Song aus Deutschland: Roger Cicero erhielt für seine Swing-Nummer „Frauen regier’n die Welt“ 49 Punkte und erreichte damit den 19. Platz.
Gerüchten zufolge hatte Cicero beim ESC in Helsinki bei der Back-Up-Jury sehr gut abgeschnitten. Aber damals zählte nur das Televoting. So gesehen zeigte sein 19. Platz damals bereits, dass man mit einem Text auf Deutsch nicht (ganz) auf verlorenem Posten stehen muss. Viel mehr geht es um die Komposition, die Ausstrahlung und das Gefühl. Dann überwindet Musik wahrlich (Sprach-)Grenzen. So wie bei den ESC-Siegen von Marija Šerifović in 2007 und Salvador Sobral 2017, aber letztlich auch beim 8. Platz von Michelle mit „Wer Liebe lebt“ 2001 in Kopenhagen.
Dieses Potenzial haben in den letzten Jahren immer mehr Länder erkannt. Und immer häufiger haben auch Beiträge in Landessprache gewonnen – die Ukraine gleich zwei Mal, aber auch Måneskin aus Italien. Dazu kamen etliche Top-Platzierungen wie zuletzt von Käärijä, Chanel, Barbara Pravi, Gjon’s Tears etc. Tatsächlich wurden in diesem Jahr so viele Beiträge in Landessprache präsentiert wie nie seit Aufhebung der Sprachenregelung. Und das mit Erfolg: Insgesamt waren acht der Top-10-Songs im Finale in Basel zum größten Teil nicht auf Englisch gesungen!
Ganz so gut lief es für Abor & Tynna und ihren deutschsprachigen Song „Baller“ nicht mit dem 15. Platz und 151 Punkten. Ja, ISAAK hatte im letzten Jahr den 12. Platz geholt, das aber nur mit 117 Punkten, von denen die meisten dann auch von der Jury kamen. Abor & Tynna hingegen beeindruckten auch das TV-Publikum. Die späteren Chart- und Streaming-Erfolge des Duos auch im nicht-deutschsprachigen Ausland unterstreichen diesen Erfolg – und der Jubel der internationalen Fans im Euroclub, wenn das erste „Ballerlerler“ erklang, ebenso.
Es muss also kein Nachteil sein, beim ESC auf Deutsch zu singen. Wichtiger sind überzeugende, innovative oder moderne Kompositionen. Künstler*innen, die mit der Kamera spielen und mit ihrem Charisma Interesse und Sympathie beim Publikum erzeugen können. Und es braucht eine ganzheitliche Inszenierung, die visuell in Erinnerung bleibt.
Dann benötigt man auch keinen englischen Untertitel, wie ihn Lucio Corsi in Basel nutzte – und den vermutlich niemand gelesen oder verstanden hat. Die Leute schwelgten in seinen harmonischen Melodien, diskutierten über sein Outfit oder rätselten vielleicht, ob sie nicht doch von einem weißgeschminkten Ozzy Osbourne geprankt wurden.
Und dann KAM da noch der finnische Wirbelwind Erika Vikman, der es vermutlich schon mit dem Songtitel „ICH KOMME“ nicht in die deutsche Vorentscheidung geschafft hätte. „Wunderbar“ hin oder her. Der Rest ihres Textes war dann aber ja weder auf Deutsch noch auf Englisch, sondern auf Finnisch. Und wie viele Menschen verstehen das eigentlich? Egal. Denn sie verstanden den Auftritt und die Botschaft. Und im Euroclub sangen alle internationalen Fans die erste Person Singular von kommen – aus voller Überzeugung, immer und immer wieder.
„Baller“ und „ICH KOMME“ haben in Basel etwas bestätigt, was sich schon 2024 abgezeichnet hat. Mehr noch als „Naiv“ von Marie Reim erzeugten Großstadtgeflüster mit „Ich kündige“ einen Social-Media-Hype vor der deutschen Vorentscheidung, an der sie letztlich gar nicht teilnahmen. Auch die internationale ESC-Bubble war ganz aus dem Häuschen und hätte den Titel nur zu gern beim ESC in Malmö erlebt. Haben sie den Text und Wortwitz von „Ich kündige“ verstanden? Ganz sicher nicht. Aber die Musik, der Vibe und das Charisma – das kam schon in der Videofassung an.
Insofern will man den neuen ESC-Verantwortlichen beim SWR zurufen, die Augen und Ohren gerade auch für Songs auf Deutsch offen zu halten. Da hilft aber kein radiofreundlicher Betroffenheitspop (no offense to no one), denn der Text ist egal. Nicht egal ist das Gefühl, das vermittelt oder erzeugt wird – sei es als Ballade, mit Swing oder ballerndem Elektro-Pop. Deutschland kann da mehr, als wir das seit 2010 in hiesigen Vorentscheiden erlebt haben, und damit im Idealfall auch beim ESC vorne mitsingen. Oder zumindest selbstbewusst und zufrieden scheitern.
Wie ordnest Du die Chancen eines Songs mit deutschem Text beim ESC ein? Hat man direkt verloren oder kann man damit auch mit Songs auf Italienisch, Französisch oder zumindest Niederländisch mithalten? Welche deutschsprachigen Künstler*innen hätten das Zeug, auch auf Deutsch beim ESC zu überzeugen? Lass es uns in den Kommentaren wissen.
In unserer Reihe Bye Bye Basel bereits erschienen:
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