Rechtsstaat bedeutet nicht, dass Volkes Zorn oder Entrüstung von Politikern Recht spricht. Der Fall des „Raketen-Influencers“ Atallah Younes, andere nannten ihn „Raketen-Rambo“, bietet Anlass, daran zu erinnern: Der Rechtsstaat kann auch eine Zumutung sein für das breite Gerechtigkeitsempfinden. Und er muss es zuweilen sogar.

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Kaum hatte das Landgericht Berlin am Mittwoch sein Urteil gegen den 24-Jährigen verkündet, brach sich die Empörung Bahn. Das war geschehen: Der palästinensische Influencer, ein Staatenloser aus Nablus im Westjordanland, war Silvester als Tourist in Berlin. Er ließ in Neukölln eine Silvesterrakete aus der Hand auf ein Mietshaus fliegen.

Reichen sechs Monate Haft auf Bewährung aus?

Im dritten Stock durchschlug die Rakete eine Fensterscheibe, das Feuerwerk ging hoch, der Wohnungsinhaber konnte verhindern, dass in der Wohnung ein Feuer ausbricht. Es entstand Schaden an Einrichtungsgegenständen. Den Clip von der Aktion lud Younes auf seinen Social-Media-Kanälen hoch. Es folgten Reichweite und Empörung, deutschlandweit.

Alexander Fröhlich ist stellvertretender Leiter des Berlin-Ressorts. Er meint: Der Staat hat entschieden und schnell reagiert.

Nun verurteilte ihn das Gericht zu sechs Monaten Haft, setzte diese aber zur Bewährung aus. Younes kann also ausreisen, Deutschland verlassen. Ist die Strafe zu gering? Reicht das auch, um auch generalpräventiv Nachahmer abzuhalten? Und müsste nicht ein Exempel statuiert werden, wenn ein Influencer aus dem Ausland wilde Böllersau in Berlin spielt – gerade nach den Krawallsilvesternächten der Jahre zuvor?

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Die Anklage lautete noch auf versuchte schwere Brandstiftung, versuchte gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung. Die beiden ersten Vorwürfe, die schwerer wiegen, konnten ihm in der Verhandlung nicht nachgewiesen werden.

Zentral dabei war die Frage, für die auch Sachverständige herangezogen wurden, ob Younes davon ausgehen musste und sich damit abgefunden hat, dass die Rakete die Fenster durchschlägt, zu einem schweren Brand führt oder in der Wohnung Menschen trifft. Für das Gericht lautete die Antwort: nein.

Selbst wenn das Gericht von einer versuchten schweren Brandstiftung und versuchten gefährlichen Körperverletzung ausgegangen wäre, ist völlig unklar, ob dies zu einem weitaus höheren Strafmaß geführt hätte. Denn die Taten waren nicht vollendet.

Haftstrafen ohne Bewährung für Sachbeschädigung sind eher selten

Es blieb nur die Sachbeschädigung. Dabei hat der Influencer nach Ansicht des Gerichts aber billigend in Kauf genommen, dass das Haus beschädigt werden könnte. Er war also rücksichtslos, hat das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit erheblich beeinträchtigt und handelte „fern jeder Verantwortung“. Als strafverschärfend wertete das Gericht auch das Posten des Raketenvideos.

Das Gesetz sieht für die Sachbeschädigung, kein besonders schweres Delikt, eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vor. Bei Ersttätern, wie Younes es auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik ist, sind meist Geldstrafen die Regel, Haftstrafen sind eher die Ausnahme, etwa bei besonders starken Schäden oder wenn die Täter vorbestraft sind.

Influencer besonders haftempfindlich

Eine Geldstrafe wäre für die Raketen-Tat aus Sicht des Gerichts zu gering gewesen. Aber das Urteil von sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung ist auch vergleichsweise hoch, zumal Younes geständig war, Reue zeigte und um Entschuldigung bat.

Zum Vergleich: Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann bekam für seine Kettensägenattacke auf den Dachbalken in der Garage seines Nachbarn eine Geldstrafe, die fünf Monaten Haft entspricht. Für eine Farbattacke auf das Brandenburger Tor bekamen Klimakleber mal acht Monate Haft auf Bewährung. Und bei diesen Fällen ging es um weit größere Schäden.

Die Empörung über das Urteil geht fehl. Mehr als drei Monate Haft in Moabit für Sachbeschädigung sind kein Klacks.

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Auch wenn Younes vielleicht nicht gleich einsah, was er falsch gemacht hat: Seit dem 4. Januar, als ihn die Bundespolizei am Flughafen BER bei der Ausreise nach Jordanien stoppte und festnahm, hatte er viel Zeit. Allein damit schon setzten die Behörde ein Zeichen, indem sie entschieden und schnell handelten.

Und dann: Mehr als drei Monate Untersuchungshaft sind nicht wenig. Zumal in einem anderen Land, dessen Sprache Younes nicht spricht, fernab von der Familie, die nicht zum Besuch kommen kann – nach Moabit. Er war also „besonders haftempfindlich“, wie das Gericht urteilte. Mehr als die Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe hatte er bereits abgesessen, eine Bewährung für den Rest ist im Rahmen des Üblichen.

An all dem ist nichts skandalös. Das ist der Rechtsstaat. Die Haftempfindlichkeit im Einzelfall und unter besonderen, gesetzlich geregelten Voraussetzungen zu beachten, gibt das Grundgesetz gewissermaßen schon vor.

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Nämlich Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der Mensch darf, so hat es das Bundesverfassungsgericht erklärt, nie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Sondern der Mensch ist, auch als Straftäter, als Individuum mit eigenen Rechten und Belangen zu behandeln.

Der Fall Younes zeigt: Der Rechtsstaat hat funktioniert, die Empörung über das Urteil geht fehl. Denn die Behörden haben bei einer Straftat, die das Sicherheitsempfinden vor dem Hintergrund der Silvesterkrawalle stark beeinflusste, entschieden reagiert. Auch das war eine Ansage an andere Böllerfanatiker. Mehr als drei Monate Haft in Moabit für Sachbeschädigung sind kein Klacks. Und die Justiz hat schnell und angemessen geurteilt.