Harald Lesch hatte kein Manuskript für seinen Vortrag bei der Tübinger Mediendozentur. Nur ein Blatt mit Stichworten. Er sprach über „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“.

Der Festsaal der Neuen Aula war trotz des heißen Tages voller Menschen. Der Vortrag im Rahmen der Tübinger Mediendozentur von der Universität Tübingen und dem SWR Studio Tübingen wurde in drei weitere Hörsäle und im Internet übertragen. Dabei hatte der Astrophysiker Harald Lesch nur ein DIN-A4-Blatt dabei. Er habe schon ein Manuskript geschrieben, erklärte er zu Beginn. Aber das schien ihm dann nicht zu seinem komplexen Thema „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“ zu passen. Also ließ er es weg und sprach frei.

Harald Lesch gestikuliert auf der Bühne des Festsaals der Uni Tübingen. Die Mediendozentur ist eine gemeinsame Veranstaltung der Uni und des SWR Studios Tübingen.

Lange kann er nicht stillstehen. Schon gar nicht gedanklich. Das Manuskript zu Harald Leschs Vortrag „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“ passte auf ein DIN-A4-Blatt. Er sprach frei.

Die Feinde der informierten Gesellschaft, das sind für Harald Lesch keine Persönlichkeiten mit Gesichtern und Namen, sondern anonyme Institutionen, wo Algorithmen neue Algorithmen entwickeln. Die würden dann Smartphones und Computer mit aberwitzig vielen Informationen in überwältigender Geschwindigkeit fluten.

Informationen sind begehrt – und kosten Geld

Ein entscheidendes Problem mit diesen Informationen sieht Lesch darin, dass „der Markt“ ein großes Interesse an ihnen hat. Informationen kosten Geld, sagte er. Wettbewerb und Konkurrenz spielten eine große Rolle bei ihrer Verbreitung. Deshalb sollte man öffentlich-rechtlichen Quellen, die von der Gesellschaft selbst bezahlt werden, mehr Vertrauen schenken als solchen, die eigene finanzielle Interessen verfolgen, so der Wissenschafts-Erklärer.

Ein Feind der informierten Gesellschaft sei auch der Satz „Zeit ist Geld“. Es fehle heute die Zeit, Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Schnelle, einfache Erklärungen würden immer wichtiger – auch wenn sie falsch seien.

Lesch warnt vor „Selbstradikalisierung“

Denn die Wirklichkeit ist für Lesch so komplex, dass es keine einfachen Antworten geben könne. Ohne Quantenmechanik würde kein Smartphone funktionieren, dennoch entziehe sich die Quantenmechanik der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Da müsse man der Wissenschaft vertrauen und das Verstehen einzelner Bereiche an Menschen delegieren, die sich viel damit befassen. Sonst besteht seiner Meinung nach die Gefahr wachsenden Misstrauens bis hin zur „Selbstradikalisierung“ in den „Echokammern“ des Internets.

Informationsflut erzeugt Stress


SWR2 Wissen: Aula
Die Krise der Kommunikation

Die Informationsflut, der der Mensch ausgesetzt ist, führt zu einer neuen Gereiztheit, die symptomatisch ist für eine neue Kommunikationskultur. Das meint der Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen in der SWR2 Aula. Manuskript zur Sendung.

So.18.10.2020
8:30 Uhr

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Fastfood-Medien und „Info-Adipositas“

Für Lesch gibt es viele Feinde der informierten Gesellschaft – und das, obwohl eine Demokratie informierte Menschen braucht. Eine Lösung habe er nicht. Hinzu kommt laut Lesch, dass kaum ein Problem ein Einzelner alleine lösen kann. Man müsse es zusammen machen.

Dem Publikum riet er, sich Informations-Pausen zu gönnen, das Handy öfter mal wegzulegen, Informationsmahlzeiten zu portionieren und Fastfood-Medien zu meiden. Sonst drohe eine „Info-Adipositas“.

Aufruf zum „analogen Widerstand“

Harald Lesch rief zum „analogen Widerstand“ auf: „Wir sind das Lebewesen, das handeln kann und sich nicht digital behandeln lassen muss. Bleiben Sie Mensch!“ Online-Nachfragen bei Künstlicher Intelligenz brauchten immens viel Energie und verstärkten so den Klimawandel. Nachfragen bei echten Menschen seien dagegen das beste Mittel gegen Missverständnisse.

Dazu bräuchte es eine Fehlerkultur, bei der es nicht als schuldbeladen, sondern als menschlich aufgefasst werde, wenn jemand einen Irrtum zugibt. Denn damit könne man andere vom selben Irrtum abbringen.

Außerdem müsse man sich bewusstmachen, wie viel Zeit man mit sinnlosen Informationen verliert. Informationen, so Lesch, die man nicht braucht, von denen man nicht einmal weiß, ob sie stimmen.

Nehmen Sie sich Zeit, die Zeitfresser zu identifizieren. Nehmen Sie sich ihre Lebenszeit wieder in die eigene Hand. Das ist der größte Schatz, den wir haben.

Zumindest für sich selbst und die eigene Umgebung könne man mit „analogem Widerstand“ viel machen, sagte Lesch nach der Veranstaltung dem SWR. Er könne dazu nur einen Anstoß geben.

Lesch: Menschen sollen nicht von Maschinen abhängig sein

Seine Hoffnung reicht aber viel weiter: Er sei sich sicher, dass die Menschen nicht von Maschinen abhängig sein wollen. Mit anderen Menschen sei man in einem anderen Zustand als mit Computern.

Die Tübinger Mediendozentur fand am Mittwoch zum 20. Mal statt. Sie ist eine gemeinsame Veranstaltung der Universität Tübingen und des SWR Studio Tübingen. Seit 2003 sind für die Mediendozentur unter anderem Claus Kleber, Maybrit Illner, Alice Schwarzer, Doris Dörrie, Sascha Lobo und Juli Zeh nach Tübingen gekommen.