In der evangelischen Kirche tut man sich schwer mit der Aufarbeitung der Pandemie. Das zeigt eindringlich der Streit um ein 2023 „depubliziertes“ und nun verändert neu aufgelegtes Debattenbuch
Foto: Sascha Steinach/picture alliance
Neulich wurde im Berliner „Basecamp“ in Berlin-Mitte mit einiger Prominenz aus Politik, Theologie und Wissenschaft ein neues Buch vorgestellt. Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise heißt es und ist laut SCM R. Brockhaus Verlag „ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Corona-Zeit“. Das Buch ist eine überarbeitete und erweiterte Auflage des Buches Angst, Politik, Zivilcourage. Rückschau auf die Corona-Krise. Dieses Buch erschien im Juli 2023 in der Evangelischen Verlagsanstalt EVA und wurde vier Monate später aus dem Handel gezogen, „depubliziert“, wie man sagt. Warum? Davon handelt dieser Beitrag.
Beide Bücher wurden im Auftrag der Evangelischen Georgsbruderschaft herausgegeben von Thomas A. Seidel und Se
ziert“, wie man sagt. Warum? Davon handelt dieser Beitrag.Beide Bücher wurden im Auftrag der Evangelischen Georgsbruderschaft herausgegeben von Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt. Kleinschmidt stand wegen schwerer Krankheit nicht für ein Interview zur Verfügung. Seidel versteht sich als „liberal-konservativer Sozialdemokrat“ (Selbstaussage). Dass manche Protestanten ihn als „rechte Socke“ bezeichnen, als einen, der Räume nach rechts öffne und als Bindeglied zwischen Rechtsextremen und Kirche fungiere, lässt der Pfarrer im Ruhestand nicht gelten: „Zu Verleumdungen frustrierter vormaliger Kollegen äußere ich mich nicht“, sagte er dem Freitag. Ein christlich-konservatives Who-is-Who der Coronakritik findet sich im Basecamp ein: die CDU-Politiker Armin Laschet (rheinisch-katholisch) und Kristina Schröder (freikirchlich evangelisch-lutherisch), die Mediziner Klaus Stöhr, Thomas Voshaar und Detlev H. Krüger, die Theologin Dorothea Wendebourg. Von den 20 im Buch vertretenen Autorinnen haben Christine Lieberknecht, bis 2014 CDU-Ministerpräsidentin von Thüringen, und der Journalist Alexander Kissler, seit Oktober 2024 für nius tätig, „Geleitworte“ beigesteuert.Unappetitliche VorwürfeDer Jurist André Kruschke, der auch in der Jungen Freiheit publiziert, liefert mit „Angst als Herrschaftsinstrument?“ einen „juristischen Rückblick auf die Corona-Krise“, wobei das Fragezeichen im Titel eher Formsache ist und das Zitieren von AfD-Quellen dazu gehört.Im Mitte-Café – der Bundestag ist fußläufig, die Pfeiler sind übersät mit Politiker-Fotos – warten Stapel des Corona-Buches auf Käufer. Die erste Version war im Juli 2023 erschienen – und vier Monate später aus dem Handel genommen worden, kurz bevor nach Angaben des Herausgebers die zweite Auflage anstand, und nachdem am 30. Oktober 2023 im evangelischen Medium zeitzeichen mit „Nicht salonfähig!“ ein Verriss von Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst erschienen war. Das Buch sei „antisemitisch“ und „geschichtsrevisionistisch“. Seidel nennt die Vorwürfe „unappetitlich“, sie hätten bei den Herausgebern „blankes Entsetzen“ hervorgerufen.In einer Pressemitteilung begründete das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP), das eine Mehrheitsbeteiligung an der EVA hält, die Entpublizierung damit, dass darin „Menschenfeindlichkeit, Demokratieverachtung und Antisemitismus offen propagiert“ und „rote Linien in eklatanter Weise überschritten“ würden. Die Entpublizierung erregte Widerspruch. Vom Theologen und Impfpflichtkritiker Jan Dochhorn wird übers evangelikal geprägte Medium Idea ein offener Brief publik, unterschrieben von Wissenschaftlern und Theologen, genüsslich dokumentiert von Tichys Einblick.Zensur und VerbotKolumnist Achijah Zorn spricht von „Zensur“. Seidel nennt es „Verbot“. Der Theologe und in beiden Buch-Versionen als Autor beteiligte Rochus Leonhardt liefert sich – ebenfalls via zeitzeichen – ein schriftliches Gefecht mit Probst und Merle. Der Pädagogikprofessor und ehemalige Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung, Wolfgang Sander, hält den Verkaufsstopp für einen „massiven Eingriff in die Meinungsfreiheit“.Die Debatte entzündet sich an einem Aufsatz von Heimo Schwilk, der auf eine Anfrage dieser Zeitung nicht reagierte. „Das schlechte Gewissen lässt sich nämlich auch anzapfen“, heißt es in seinem Beitrag „Angst und Auflage. Deutsche Medien im Panikmodus“, „wie das geht, haben uns die Erben der israelischen Opfer der Olympischen Spiele von München 1972 perfekt vorgeführt. Aber schon stehen andere Länder Schlange.“In einer Stellungnahme auf seiner Webseite betont Schwilk, er habe sich „als Publizist zu keinem Zeitpunkt ‚antisemitisch‘ betätigt“. Seidel sagt, er schätze den Autor als Hesse-, Rilke- und Luther-Biograf. Schwilk habe eingeräumt, dass sein Text „missverständlich“ sei. „Der Tonfall ist extrem scharf, hyperpolemisch“, meint Seidel. Nach dem 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel angriff, sei „die Aufregung berechtigt“ gewesen, doch dürfe wegen eines Satzes nicht ein ganzes Buch als „antidemokratisch“ oder „antisemitisch“ bezeichnet werden. Schwilk zitiert auch den AfD-Mitarbeiter Michael Klonovsky oder Horst G. Herrmann, der im rechtsaußen-Manuscriptum-Verlag publiziert. Davon will Seidel nichts gewusst haben. Das Endlektorat habe nicht er verantwortet. Die Meinungsfreiheit höre für ihn „dort auf, wo offenkundig extremistisch, menschenverachtend, antidemokratisch formuliert wird“ und „wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Gefahr steht“. Im Übrigen enthalte die neue Version des Buches keinen Text von Heimo Schwilk. Andernfalls hätte der neue Verlag, SCM R. Brockhaus, das Buch auch nicht herausgebracht. „Da waren wir uns einig“, sagt dessen Geschäftsführer Christian Brenner, „eine Positionierung in dieser Form wäre nicht hilfreich für das Anliegen“. Von 20 Autoren sind nur sechs auch in der ersten Version vertreten, Seidel mitgerechnet.Gar nicht aufgearbeitetDie Entscheidung zur Depublikation, lässt die EKD, die in den GEP-Aufsichtsrat mehrere Mitglieder entsendet, bekunden, „wurde begründet mit Passagen, die weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt seien.“ Die Verbreitung antisemitischer und völkisch-nationalistischer Positionen sei „mit dem christlichen Glauben unvereinbar“. Zugleich bekennt sich die EKD „zu ihrer eigenen Mitschuld am Antisemitismus“.Es existiere ein jahrhundertealter „Nährboden an antijudaistischen Einstellungen“, so dass Christen „bis heute problematische und falsche Vorstellungen mit antisemitischem Hintergrund“ weitergäben. Mit dem Vorwurf des Antisemitismus müsse man derweil „äußerst verantwortungsvoll umgehen“, betont ein EKD-Sprecher. Warum man das ganze Buch depubliziert hat und nicht in einer zweiten Auflage eine korrigierte Fassung stützte, erklärt er nicht. „Die Aufarbeitung der Corona-Zeit hat in der Kirche noch nicht mal angefangen!“, meint der Hannoveraner Pastor Wichard von Heyden, dessen Text „Angst, Glaube, Zivilcourage“ der revidierten Version den Titel gab. Die EKD habe „gar nicht aufgearbeitet“. Wolkig-amtlich mailt dazu der EKD-Sprecher: „Initiativen zur rückblickenden Auswertung des jeweiligen Umgangs mit den staatlichen Regelungen zum Schutz vor der Coronapandemie gibt es in einigen Landeskirchen“. Die EKD lege „Wert darauf, sich in einem kritischen Rückblick der Corona-Maßnahmen zu engagieren, dies so, dass entsprechende interdisziplinär belastbare Datenlagen bestehen, die eine verlässliche kritische Einordnung möglich machen.“ Nichts sakralisiertDass die Kirche während der Coronazeit deutlich weniger Wert auf „interdisziplinär belastbare Datenlagen“ legte, legt das Buch nahe. So sei vielfach von der „heiligen Impfung“ die Rede gewesen. Die Kirche hätte wider besseres Wissen Impfungen „sakralisiert“, zur Diskriminierung Ungeimpfter als „Pandemietreiber“ und damit zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen, beanstandet etwa der Theologe Rochus Leonhardt in seinem Aufsatz „der Staat als Arzt?“. Dem widerspricht Friedrich Kramer, Bischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland EKM. Seine Landeskirche habe „nichts sakralisiert, eher politische Stellen und auch Medien“. Tatsächlich gab es Sticker mit dem theologisch mindestens fragwürdigen Slogan „Impfen ist Nächstenliebe“, sogar ein ARD-„Wort zum Sonntag“ verkündete diese Botschaft.„Kritikern wurde vielfach pauschal eine gegen die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung gerichtete Haltung unterstellt“, erinnert Leonhardt. Auch Pastor von Heyden betont: „Die Spaltung der Gesellschaft in Freund und Feind hätte die Kirche nie hinnehmen dürfen – selbst dann nicht, wenn Corona so schlimm wie die Pest gewesen wäre.“ Die Kirche hätte weiterhin um Seelsorge bei Sterbenden, Dementen, Menschen auf Intensivstationen kämpfen müssen und „nie zulassen dürfen, dass die Kinder, die keine besondere Anfälligkeit für das Virus hatten, nicht auf Spielplätze, in Kindergärten und Schulen gehen durften“. Dass eine Impfung von Kindern sinnlos war, sei allen bekannt gewesen. Deutschland habe „Kinder in der Pandemie zu einem Mittel für die Zwecke anderer gemacht“, kritisiert denn auch die frühere CDU-Familienministerin und heutige Unternehmensberaterin Kristina Schröder.Kein Unrecht geschehenBischof Kramer stellt sich der Debatte, hatte schon 2023 an einer von Seidel moderierten ‚Disputation‘ zum Thema Corona und Kirche teilgenommen. Seine Landessynode hat nach Angaben eines EMK-Sprechers „auch den Slogan ‚Impfen ist Nächstenliebe‘ reflektiert und sich bei Menschen entschuldigt, die gegebenenfalls verletzt wurden“. Der Bischof lehne jedoch den Begriff „Aufarbeitung“ ab, weil kein Unrecht geschehen sei. Für den 30. September sei unter #Verständigungsorte wieder ein Gespräch zu Corona geplant. Das dürften die Kritiker begrüßen. Von Heyden fordert, „es wäre an der Zeit, dass die Verantwortlichen in Landeskirchen und EKD solche Fragen nicht mehr reflexartig als ‚rechts‘ diffamieren.“ Als Gast im Publikum lauscht auch der damals als „abweichend“ von Lockdown-Regierungslinie und Mainstream-Wissenschaftlern wahrgenommene Virologe Klaus Stöhr, der zusammen mit Krüger den Beitrag „Das Virus, die Seuchenbekämpfung und die Angst“ verfasste. Darin argumentieren sie, dass sehr früh, auch im RKI und damit bei Entscheidungsträgern, bekannt gewesen sei, dass Dauerlockdowns, Impfverherrlichung und Schulschließungen unnötig bis schädlich seien. Die Kirche müsse sich fragen, fordert von Heyden: „Haben wir Menschen im Stich gelassen? Haben wir mit öffentlicher, politischer Theologie nur die überirdische Rechtfertigung für unterirdischen Autoritarismus betrieben?“Anscheinend muss sich neben Politik-, Medien- und Kultur- auch der Kirchenbetrieb fragen (lassen), warum er Coronamaßnahmenkritik lange fast einhellig als „rechts“ labelte, damit bis heute den Rechten überlässt – und was er damit anrichtet.
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