Das Left Bank Theatre aus Kiew hat schon früher in Berlin gastiert. Aber der Auftritt des ukrainischen Ensembles im Ballhau Ost beim „Performing Exiles“-Festival wird lange in Erinnerung bleiben. „Confronting the Shadow“ heißt das Stück, eine Koproduktion mit den Berliner Festspielen. Eine Aufführung wie ein Schrei. Aus Verzweiflung. Aus Trotz und Wut. Ein Schmerz, den Nachrichtenprogramme aus dem seit über drei Jahren andauernden Krieg kaum vermitteln können.

Dafür gibt es Theater. Bald zweieinhalb Stunden ohne Pause: Es gibt so viel zu sagen, so viel liegt den Theaterleuten auf der Seele. Das Gruppenstück mit der Regisseurin Tamara Trunova ist Groteske, Farce, Tragödie, Dokumentation, ein Plädoyer, eine peinigende Selbstbefragung und ein raffiniertes Spiel mit dem Publikum. Es hat etwas Therapeutisches für beide Seiten, in ukrainischer Sprache mit deutschen und englischen Obertiteln.

Der Tagesspiegel Ukraine-Newsletter Hier informieren sich mehr als 60.000 Leserinnen und Leser täglich über alle wichtigen Nachrichten zum Krieg.

Sie sind aus Kiew nach Berlin gekommen, um sich zu bedanken, wie sie sagen. Für die Unterstützung, das Geld, die Waffen. Wirklich? Geht es darum, Verbundenheit zu zeigen, oder um Unterwerfung, wie Donald Trump bei der demütigenden Audienz im Weißen Haus von Präsident Selenskyj verlangte? Ist es nicht schrecklich, dass sie sich so fühlen müssen, als Bittsteller, dass sie so unsicher sind, während sie unter unerträglichen Verlusten die europäischen Grenzen verteidigen?

Der Humor schmeckt bitter: Nach langem Nachdenken, was die ukrainischen Theaterleute dem deutschen Publikum mitbringen sollen, lautet die Lösung: Wir schenken euch die russische Kultur!

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Externen Inhalt anzeigen

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Wozu jetzt noch Theater?

Eine ganz starke Szene. Eine Schauspielerin steht nackt an der Rampe und spricht den Monolog der Nina aus Tschechows „Möwe“. Aber wozu noch Tschechow? Er ist Russe, und Putins Russland will die ukrainische Kultur zerstören. Wozu überhaupt noch Theater, fragen sie, und da tauchen Shakespeare und Heiner Müller in einer Talkshow-Parodie auf und müssen wohl begreifen, dass David Lynch die bessere Referenzgestalt ist. In seinen Filmen braucht das Böse, der Horror keine Erklärung.

Sie agieren giftig, hilflos, schlagfertig, verloren in einer nicht mehr zu fassenden Realität. Dabei erinnern die drei Frauen und drei Männer an Pirandellos „Sechs Personen“, die einen Autor suchen. Das Left Bank Theatre sucht mögliche Formen des Ausdrucks für das Unvorstellbare. Eine weitere Schauspielerin, eine Art Kommentatorin mit blauer Perücke und gelbem Kleid, den Farben der Ukraine, hält sich für Marge Simpson, vertieft sich in wissenschaftliche Texte und interstellare Utopien. Eine andere ist die „Wahrheit“, die einsamste Gestalt im Universum tödlicher Propaganda.

Das Festival

An verschiedenen Spielorten läuft „Performing Exiles“ noch bis 28. Juni. Im Ballhaus Ost spielt „Confronting the Shadow“, im HAU 2 zeigen Rabih Mroué und Lina Majdalanie ihr neues Stück „Four Walls and a Roof“ über Bertolt Brecht in den USA. Im Haus der Festspiele läuft der Marathon „100° Diaspora“.

Dann kommt ein Mann auf die Bühne und erzählt. Er hat bei einem Bombenangriff beide Beine verloren, läuft auf Prothesen aus der Superhumans-Klinik in Lwiw. Am Theater arbeiten, das war sein Traum. Er sagt, er brauche keinen Orden, die neuen Beine, das sei seine Auszeichnung. Dass er es geschafft habe, er und viele andere.

Im Zuschauerraum wird es sehr still. Der Mann mit den Prothesen zeigt es mit Stolz. Das ist die neue Ukraine. Widerständig, erfindungsreich, zivilisiert und kampfbereit. In diesen Momenten fallen die Wände des Theaters, die Realität übernimmt – und wie kämpfen die Schauspielerinnen und Schauspieler darum, den Theaterraum zu behaupten. Und zugleich reißen sie die Bühne auf, wo der gute alte Hamlet keinen Sinn mehr hat.

Weiterspielen, weitermachen! Wie zu Anfang im Video, als ein Mann in Uniform ihnen den Marschbefehl nach Westen gibt. Geht hin und sagt dem Publikum dort, was hier los ist. Am Ende sieht man ihn wieder. Er verabschiedet sich von seinen Kollegen. Es ist ein Schauspieler vom Left Bank Theatre, er zieht an die Front, um sein Land gegen die russische Invasion zu verteidigen.

Demokratien diktatorische Züge annehmen

„Confronting the Shadow“ tut weh. Die Erschütterung setzt mit Verzögerung ein. Man kann danach nicht schlafen. Schweigen, diskutieren, trinken, für das Superhumans Center spenden… Dieses „Danke“ aus Kiew ist ein Schlag in unser Gesicht. Wir haben es verdient. Weil wir lange weggeschaut haben und das immer noch tun.

Im Angesicht einer solchen Vorstellung fällt es schwer, sich mit anderen Programmpunkten zu beschäftigen. Das trifft dann auch auf „Four Walls and a Roof“ zu, die neue Produktion von Lina Majdalanie und Rabih Mroué. Dies Stück über Bertolt Brecht im amerikanischen Exil läuft bei den Performing Exiles im HAU 2, einer insgesamt starken Festival-Ausgabe. Die beiden libanesischen Künstler leben seit Jahren in Berlin, und Brecht ist hier das Thema und das Beispiel: Wie Demokratien diktatorische Züge annehmen und die Freiheit attackieren. Sind wir schon wieder so weit?

Mehr Theater im Tagesspiegel: Theaterfestival „Performing Exiles“ Die Seele bleibt in Teheran Berliner Open-Air-Theater eröffnet Shakespeare, Molière und die Frage nach dem gerechten Krieg „Der Prozess Pelicot“ bei den Wiener Festwochen Milo Rau inszeniert Lese-Performance mit ungeheurer Wucht

Brecht musste 1947 in Washington vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ aussagen. Danach verließ er das Land. Gibt es Parallelen zu heute? Wiederholt sich Geschichte? Und was ist das, Heimat, was heißt Exil? Da wird viel vorgelesen und referiert, ein Pianist haut in die Tasten, wenn der Name des Komponisten Hanns Eisler fällt. War Brecht Kommunist? Die amerikanischen Quälgeister fanden es nie heraus. Die Anhörung war der Anfang einer schlimmen Kampagne gegen Künstler und Intellektuelle, viele verloren ihre Jobs. Es war auch eine Kriegserklärung gegen Hollywood.

Alles richtig, alles korrekt, wir stehen auf der richtigen Seite, wer will da widersprechen! Das ist das Problem. Es fühlt sich fast so an, als hielten sich die Performer mit ihren Kommentaren zur Gegenwart, zum Beispiel in Gaza, zurück. Auch das ist eine Aussage.