Endzeitstimmung vor der barocken Schlossfassade. Solvejg Bauers Inszenierung verlegt Puccinis „La Bohème“ in ein zerstörtes Paris der Zukunft, die Metall-Reste des Eiffelturms prägen die Spielfläche (Bühne Christian Held), die Bohemiéns erinnern an das Personal eines Mad-Max-Filmes (Kostüme Gesa Gröning), der Rest der Bevölkerung vegetiert in Bunkern, erscheint nur zur grotesken Weihnachtsfeier auf der Oberfläche, vom Glanz des „Café Momus“ und seinem bunten Treiben, das bei sonstigen Aufführungen gerne mit viel Augenfutter versehen wird, findet sich hier keine Spur.
Ettlingens regieführende Intendantin Solvejg Bauer präsentiert eine dunkle Sicht auf das Leben der Bohemiéns und besonders auf das Sterben von Mimi. Armut und Hunger sind hier nicht pittoresk, sondern prägen den Überlebenskampf. Der Dichter Rudolfo, der bis zu Mimis Tod versucht, seine poetischen Einfälle festzuhalten, der Maler Marcello, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline ringen in diesem Endzeit-Ambiente um jeden Glücksmoment.
Ein Pluspunkt dieser Open-Air-Aufführung ist das junge, spiel- und ausdrucksfreudige Ensemble, das so manchen zeitgeistigen Gag wie die Selfie-Sucht vergessen lässt. Promiskuität ist unter diesen Extrembedingungen ebenso wie ein Verschwimmen der sexuellen Orientierung verständlich, Mimi liebt nicht nur Rodolfo, sondern nähert sich handgreiflich auch seinem Freund Marcello, Musettas Leben-Liebeslust scheint keine Grenzen zu kennen, auch die Männer untereinander fühlen sich körperlich voneinander angezogen.
Das Korsett gesellschaftlicher Konventionen wird in Bauers temporeich-packender Inszenierung mühelos über Bord geworfen. Benjamin Parks Rodolfo kann mit einem recht höhensicheren Tenor mit einigem Puccini-Schmelz punkten, auch wenn vieles noch pauschal-undifferenziert klingt. Felicitas Wredes Sopran fehlt in der Höhe noch das Strahlende für die Mimi, was aber durch ihre Ausdruckskraft und Intensität mehr als ausgeglichen wird. Von Beginn an ist sie vom nahenden Tod gezeichnet, dem sie sich mit aller Kraft entgegenstemmt. Nicht nur stimmliche Beweglichkeit zeichnet Megan Henrys Musetta aus, deren Koloraturen funkeln, eine der überzeugendsten im Ensemble der Schlossfestspiele. Ihren Liebhaber Marcello versieht Alessio Fortune mit kraftvollem Bariton und gestalterischer Finesse. Mit schlankem Bass singt David Rother seine „Mantel“-Arie, Thomas Büscher ist ein mehr als rollendeckender Schaunard.
Dass aus dem Orchestergraben eine skelettiert klingende Puccini-Partitur ertönt, ist weder dem beachtlich musizierenden Kammerorchester der Schlossfestspiele noch seinem aufmerksamen Dirigenten Johannes Bettac anzulasten, sondern der reduzierten Fassung. Viele Details sind hier zwar plastisch zu erleben, doch fehlt immer wieder die für Puccini so entscheidende klangliche Opulenz, die von einer Kammerorchesterbesetzung nicht zu leisten ist. Der von Bernhard Bagger vorbereitete Bürgerchor – ebenso überzeugend der Kinderchor – hat sich zu einem wichtigen Bestandteil der Schlossfestspiele entwickelt. Zudem darf er als Einlage das Chanson „Sous les Ciel de Paris“ beisteuern.
Nächste Aufführungen am 13. und 17. Juli. www.schlossfestspiele-ettlingen.de