Bielefeld. Niemand hat sich vorstellen können, dass ausgerechnet Bielefeld jemals Tatort eines terroristischen Anschlags werden könnte. Am frühen Morgen des 18. Mai 2025 tritt das Undenkbare doch ein. Ein mutmaßlicher Islamist zückt gegen 4.20 Uhr ein Messer und einen sogenannten Stockdegen (ein Spazierstock, an dessen Ende ein Messer versteckt ist) und sticht damit wahllos und mit großer Brutalität auf die Feiernden vor der Szenebar Cutie ein. Innerhalb weniger Momente liegen die ersten Opfer des Attentäters am Boden. Panik bricht aus. Der Mann mit den Messern wirkt wie im Wahn. Die Menschen um ihn herum sehen sofort: „Der ist noch nicht fertig, der macht weiter“, so berichten es Augenzeugen später.
In diesem Moment reagieren der 26-jährige Arminia-Bielefeld-Fan Chris und seine Freunde blitzschnell. Sie erkennen, welche Gefahr von diesem Mann ausgeht. Sie entscheiden sich, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit einzugreifen und gegen den Attentäter vorzugehen. Später danken die Tatzeugen Chris und seinen Freunden für ihr selbstloses Eingreifen. Sie werden als Lebensretter bezeichnet. Dabei hätte Chris sein Handeln fast mit dem Tod bezahlt. Der Täter hatte ihm ohnehin schon von hinten das Bein aufgeschlitzt. Als sich Chris umdreht und auf den Attentäter losgeht, trifft der mit dem Stockmesser noch zweimal die Brust des 26-jährigen Bielefelders. Chris sackt lebensgefährlich verletzt zu Boden.
In der neuesten Folge von „OstwestFälle“, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, sprechen Podcast-Gastgeberin Birgitt Gottwald und Redakteur Jens Reichenbach über diesen ungewöhnlichen Fall, dem nach Ansicht des Generalbundesanwaltes ein islamistischer Terrorakt zugrunde liegt. Es geht dabei um den Täter, um die Umstände seiner Festnahme, die Lebensretter vom Cutie, die erfreulichen Nachrichten ihrer Genesung nach der Tat und auch einige unerfreuliche Begleiterscheinungen.
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Terrorangriff in Bielefeld – der Fall im Überblick:
- Am frühen Morgen des 18. Mai 2025 sticht ein Angreifer auf Feiernde vor dem Bielefelder Club Cutie ein.
- Mit einem Messer und einem Stockdegen verletzt er fünf junge Menschen, zwei von ihnen lebensgefährlich. Die Gäste gehen gegen den Täter vor, doch der kann flüchten.
- Am Tag darauf wird der Tatverdächtige Mahmoud M. in der Stadt Heiligenhaus (Kreis Mettmann) in einem Wohnblock gefasst.
- Die Nähe des Tatverdächtigen zum IS wird schnell deutlich. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen.
- Der Haftbefehl lautet zunächst auf vierfach versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung, später auch auf Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.
Zwei Bielefelder schweben in Lebensgefahr
Bielefeld steht nach der Messertat an jenem frühen Sonntagmorgen unter Schock. Fünf Personen werden durch den Täter verletzt. Zwei junge Männer schweben sogar in Lebensgefahr, zwei weitere Personen liegen mit schweren Verletzungen am Boden. Beherzte Ersthelfer tun alles dafür, dass die Schwerverletzten nicht zu viel Blut verlieren. Mit einem Gürtel binden sie das Bein eines der Opfer ab. Notärzte und Rettungskräfte eilen zum Tatort und übernehmen kurz darauf die Versorgung. Zahlreiche Streifenwagen erreichen wenig später den Tatort unter dem Ostwestfalendamm und tauchen die Szenerie in ein zuckendes Blaulichtmeer.
Am Tag nach der Tat zeugen nur noch die Handschuhe der Retter von den dramatischen Momenten vor der Szenebar Cutie in Bielefeld.
| © Jens Reichenbach
Der Täter ist verschwunden, die Polizei sucht die Gegend ab, die Bevölkerung wird vor dem möglicherweise immer noch bewaffneten und gefährlichen Mann gewarnt. Wenig später veröffentlichen die Sicherheitsbehörden Fahndungsfotos des 35-jährigen Syrers Mahmoud M. Er soll am Tatort einen Rucksack mit weiteren Messern und seinen Aufenthaltspapieren zurückgelassen haben.
Bielefelder Helfer wundern sich, als der Mann wieder aufsteht
Kein Wunder, denn die Gegenwehr der Feiernden an diesem Abend ist massiv. Mehrere Arminia-Fans, die an diesem späten Abend eigentlich die Meisterschaft ihrer Helden in der dritten Liga feiern wollten, drängen M. mit Gewalt aus der Menge, bringen ihn zu Boden. Ein massiver Tritt in das Gesicht des Attentäters lässt alle glauben: „Das war’s, der steht nicht mehr auf.“ Doch Mahmoud M. rappelt sich zur Verwunderung der Umstehenden auf und ergreift die Flucht. Vollgepumpt mit Adrenalin und vermutlich auch Alkohol ist er trotz des Tritts noch zum Handeln fähig.
Der Tatverdächtige für den Messer-Anschlag vor der Bar „Cutie“ an der Große-Kurfürsten-Straße heißt Mahmoud K. (35). Bis zu seiner Verhaftung wurde er mit diesen Fahndungsfotos gesucht.
| © Polizei
Zwei Verfolger bleiben noch auf seinen Fersen. Einer verliert den Mann aber kurz darauf im Fußgängertunnel, der zur Bahnhofstraße führt, aus den Augen. Der andere, ein Spaziergänger, der den Vorfall von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet hat, folgt dem im Gesicht blutenden Mann in die Friedenstraße, wo der Verfolgte sich im Innenhof des ehemaligen Arbeitsamtes versteckt. Der Spaziergänger hatte die eigentliche Tat nicht gesehen. Doch er weiß intuitiv: „Von diesem Mann geht Gefahr aus.“ Er bleibt daher auf Abstand und winkt einen Streifenwagen heran. Als er dies tut, nutzt der Mann im Innenhof die Gelegenheit zur Flucht – vermutlich den Hang hinauf in Richtung der Gleise, die dort entlangführen. Dann verliert sich seine Spur.
Die Frage nach dem Anschlusszug verrät den gesuchten Mahmoud M.
Später wird bekannt, dass Mahmoud M. noch stundenlang in Bielefeld unterwegs war, bevor er am Nachmittag per Zug den Weg nach Essen nimmt. Offenbar sind die Fahndungsfotos zu dem Zeitpunkt für die Reisenden noch nicht präsent genug. Das ist aber anders, als M. in Essen ankommt. Er braucht Hilfe und fragt einen Zeugen nach einem Anschlusszug nach Velbert. Der Zeuge sucht in der Bahn-App die Verbindung heraus und informiert anschließend die Polizei über das Ziel des mutmaßlichen Attentäters.
Mordkommission ermittelt am Tatort – direkt vor dem Club Cutie.
| © Paul Brinkmann
Am späten Montagabend nehmen SEK-Einheiten den Tatverdächtigen in einer von drei gestürmten Wohnungen fest. Zuvor hatten die Ermittler nichts unversucht gelassen, um die Spur des Verdächtigen aufzunehmen. Sogar Spürhunde sind im Einsatz, die Geruchsspurenträger des Gesuchten vorgelegt bekommen. Der Gesuchte hatte sich in der Nähe von Velbert in der Stadt Heiligenhaus (Kreis Mettmann) in einem Wohnblock versteckt.
Immer mehr Fehler auf der Flucht verraten den Tatverdächtigen
Die „Mordkommission Kurfürst“, benannt nach dem Tatort an der Großen-Kurfürsten-Straße, an der auch das Cutie liegt, ist ihm seit der Tat auf den Fersen geblieben, hat den Fahndungsdruck hochgehalten. M. bleibt daher keine Minute der Ruhe und so macht er immer mehr Fehler. Am Ende klicken trotz der Gegenwehr des Mannes kurz darauf die Handschellen. „Die Gefahr ist gebannt, der Täter ist gefasst“, heißt es kurz darauf.
Zum Thema: Tatverdächtiger Bielefelder Messerangreifer ist gefasst
Noch wichtiger ist aber eine andere Nachricht an jenem Montag: Die Ärzte konnten per Not-OP das Leben der beiden am schwersten verletzten Männer retten. Alle Opfer des Messerattentats konnten stabilisiert werden. Keiner schwebt mehr in Lebensgefahr. Der Besitzer des Cutie sucht alle Betroffenen im Krankenhaus auf, fühlt sich mit ihnen verbunden und vergewissert sich, dass es allen nach und nach besser geht. Chris und seinen Freunden dankt er öffentlich für ihren Einsatz, der Schlimmeres verhindert habe. Um aber nicht nur warme Worte zu liefern, richtet er auch eine Spendenaktion für die Verletzten ein. Knapp 30.000 Euro sind bisher dafür zusammengekommen.
Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund verdichten sich
Die Ermittler sind sich derweil sicher, den richtigen Verdächtigen zu haben. Und in der Tat. Schon bei der ersten Vernehmung, die mit Hilfe einer Übersetzungs-App geführt wird, soll Mahmoud M. seine Solidarität mit dem Islamischen Staat bekundet haben. Die inzwischen durchgeführte Durchsuchung seines WG-Zimmers in der Flüchtlingsunterkunft in Harsewinkel (Kreis Gütersloh) liefert weitere Indizien, unter anderem einen Block mit Notizen des 35-Jährigen. Dieses Schriftstück soll ebenfalls Beleg für eine islamistische Einstellung des Verdächtigen sein. Genauso wie ein Kontakt zu einem Mann aus dem Kreis Gütersloh, der dem Staatsschutz bereits als islamistisch bekannt sein soll.
Gute Nachricht: „Chris geht es besser“: Schwerstverletzter Arminia-Bielefeld-Fan dankt seinen Rettern
Zwei Tage nach der Tat übernimmt der Generalbundesanwalt die Ermittlungen. Ein sehr seltener Vorgang. Die oberste deutsche Strafverfolgungsbehörde, die vor allem bei Terrorismus, Spionage und Völkerstrafrechtstaten aktiv wird, sieht eine „besondere Bedeutung“ in der Tat, die mutmaßlich „religiös motiviert war und als Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verstehen ist. Damit ist sie geeignet, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen“, heißt es in einer Erklärung des Generalbundesanwalts.
Bundeskriminalamt rüstet Bielefelder Mordkommission auf
Wenige Tage nach der Festnahme verdichten sich die Hinweise auf eine islamistische Gesinnung des Inhaftierten. Der Generalbundesanwalt beordert Spezial-Teams des Bundeskriminalamtes nach Bielefeld, um die Mordkommission bei den Ermittlungen zu unterstützen. Das inzwischen 32-köpfige Team muss aus Platzgründen das Polizeipräsidium verlassen und zieht in derzeit ungenutzte Räume bei der Autobahnpolizei in Schloß Holte-Stukenbrock.
Generalbundesanwalt Jens Rommel geht im Bielefelder Fall von einem Bezug zum Islamischen Staat aus.
| © Uli Deck/dpa
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Und nun geht es den Ermittlern nicht mehr nur um das eigentliche Tatgeschehen, sondern um das mögliche Motiv. In alten IS-Listen finden sie einen Namen, den sie anhand verschiedener Abgleichmöglichkeiten Mahmoud M. zuordnen. Demnach muss er 2014 bis 2016 für die Terrororganisation gearbeitet und dort auch Geld verdient haben – in einem sogenannten Technik-Bataillon. Ob er während seiner Flucht 2023 über die Balkanroute nach Deutschland bereits Anschlagspläne gemacht hatte, ist noch unklar. Aber die Ermittler sind sich sicher, dass er kurz vor der Tat regelmäßig Kontakt mit ausländischen Persönlichkeiten hatte, die möglicherweise zum IS gehörten.
Hatte Mahmoud M. Helfer von außen? Die Ermittler sagen ja
Für die ermittelnde Bundesanwältin wird klarer, dass der zweifache Vater mutmaßlich die Ideologie des IS verinnerlicht haben muss und vermutlich mit Hilfe von außen kurz vor der Tat den Entschluss getroffen haben dürfte, bei einem Attentat möglichst viele Ungläubige zu töten. Der Generalbundesanwalt verfasst entsprechend einen neuen Haftbefehl, in dem M. nicht mehr nur vierfach versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen werden, sondern auch die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.
In dem neuen Haftbefehl der Bundesanwaltschaft, der M. am 25. Juni verkündet wird, heißt es, der Beschuldigte folge einer islamistisch-jihadistischen Ideologie und habe sich spätestens im Dezember 2014 in Syrien der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) angeschlossen. Bis zum Frühjahr 2016 habe er im Raum Raqqa unter anderem als Wach- und Grenzposten für die Organisation gearbeitet. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass er im Namen eines weltweiten „Heiligen Krieges“ und für den IS möglichst viele, willkürlich ausgewählte Menschen in Deutschland töten wollte. Zu diesem Zweck habe er am 18. Mai vor dem Bielefelder Lokal mit Messern auf Gäste eingestochen und teils lebensgefährlich verletzt.
Der mutmaßliche Täter von Bielefeld, Mahmoud M., trifft in Karlsruhe ein und wird von Polizeibeamten von einem Helikopter zu einem Fahrzeug geführt.
| © Philipp von Ditfurth/dpa
Der Generalbundesanwalt Jens Rommel betont derweil die Gefahr, die immer noch vom IS ausgeht: „Diese Fälle belegen einerseits die fortdauernde Gefährlichkeit des IS und seiner Ableger. Die Vereinigung herrscht zwar zurzeit nicht mehr über ein bestimmtes Territorium, vor allem nicht in Syrien oder im Irak. Sie ist aber weiterhin aktiv und ihr gelingt es nach wie vor, Anhänger für Anschläge etwa in Deutschland zu mobilisieren.“ Eine konkrete Anbindung an eine terroristische Gruppierung sei dabei gar nicht mehr Voraussetzung. Das zeigten Attentate wie in Mannheim und München: „In beiden Fällen hatten sich die Beschuldigten per Chat mit vermeintlichen Islam-Gelehrten ausgetauscht, die sie in dem Vorhaben bestärkten, Gegner des Islams anzugreifen. Ihre Taten waren vorab kaum zu erkennen“, berichtet Rommel.
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Mehrere Kerzen, ein Fanschal von Arminia Bielefeld und ein Zettel mit der Aufschrift „Unsere Gedanken sind bei Euch!“ liegen kurz nach der Tat vor dem Cutie.
| © Friso Gentsch/dpa
Während das Ermittler-Team bestehend aus Bielefelder Kripo-Beamten und BKA-Experten weiter an den Ermittlungen für eine wasserdichte Anklage arbeitet, geschieht in Berlin etwas ganz Besonderes, das unmittelbar mit den Cutie-Fall zu tun hat: Keine sieben Tage nach der Tat erscheint Lebensretter Chris im Rollstuhl und begleitet von zwei Rettungssanitätern im Olympiastadion, um seine Arminia beim großen DFB-Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart mitzuerleben. Der Applaus aus seiner Kurve und die vielen Banner zu seinen Ehren sorgen schon weit vor dem Anpfiff für den vermutlich größten Gänsehautmoment an diesem historischen Tag.