AUDIO: Viele Gründe, warum der Norden so viel gute Literatur hervorbringt (4 Min)
Stand: 28.06.2025 11:15 Uhr
Berlin ist nicht immer Maß aller Dinge – auch nicht im deutschen Literaturbetrieb. Die stärkste Literatur wurzelt hoch im Norden, findet Literaturredakteur Alexander Solloch und liefert unschlagbare Argumente.
Schwere Fluten branden an und reißen mit sich, was sie können. Aber sie brechen am Beharrungswillen der Menschen. In diesem Konflikt steckt große Literatur, steckt viel Stoff zum Erzählen: Hier, in Schleswig-Holstein, spielt darum der bis dato wichtigste Roman des Jahres, „Halbinsel“ von Kristine Bilkau, der erst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und dann ein Bestseller wurde.
Die Halbinsel – dieser so zwiespältige Ort, an dem sowohl die stürmische See als auch das sichere Festland ganz nah sind – könnte in diesem Fall Eiderstedt oder Nordstrand sein, da will sich Kristine Bilkau nicht festlegen. „Diese Nordseeküste ist ja immer geprägt gewesen von Veränderungen, von Umbrüchen, von Verlusten, aber auch von einer gewissen Widerstandskraft“, sagt die Autorin. Der Mensch habe dann immer versucht, sich etwas zurückzuholen. „Das ist ein wunderbarer Erzählraum, um darüber nachzudenken, wie unterschiedliche Generationen auf ihr Zuhause blicken, die Zukunft ihres Zuhauses – und auf die Zerbrechlichkeit.“
Schleswig-Holstein – prädesteniert für Schauergeschichten
Die lebendige Erinnerung an Katastrophen der Vergangenheit wie „De Grote Mandrenke“, die verheerende Sturmflut im Mittelalter, mischt sich mit Sagen und Mythen der Region: Das Watt, ein Schimmel – mehr braucht es nicht für die schleswig-holsteinische Schauergeschichte.
Die Landschaft lag in einem diffusen Dämmerlicht. Der Grauschimmel schien wie ein Geist, ein helles, durchscheinendes Fabelwesen. Während Linn versuchte, den Schimmel anzulocken, war in Wirklichkeit er es, der sie lockte weiter hinaus ins Watt, hin zur kommenden Flut. Er war eine Spukgestalt.
Buchzitat aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau
Man merkt, Theodor Storm und sein „Schimmelreiter“ bleiben auch nach fast anderthalb Jahrhunderten eine feste Bezugsgröße im norddeutschen, nordfriesischen Geschichtenschatz.
Im Roman stellt die Hamburger Autorin existenzielle Fragen. Dafür hat sie am Donnerstag den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen.
„Perplex“ und „begeistert“ über Emotionalität der Norddeutschen
Als die aus Niedersachsen stammende, inzwischen seit langem in Flensburg lebende Schriftstellerin Andrea Paluch und ihr Mann Robert Habeck im Jahr 2001 eine „Schimmelreiter“-Fortsetzung unter dem Titel „Hauke Haiens Tod“ veröffentlichten, bekamen sie gleich zu spüren, wie wichtig der Dichter aus Husum immer noch ist:
„Wir haben damals nicht in Schleswig-Holstein gelebt, wir wussten nichts von der Storm-Gesellschaft und von dieser Identifizierung hier mit Storm und Hauke Haien“, erinnert sich Andrea Palluch. Es habe dann etwas Aufregung über dieses Buch gegeben. „Wir waren total perplex, aber gleichzeitig auch begeistert, dass das Menschen emotional so berührt hat. Das war etwas Supertolles.“
Nach mehr als 20 Jahren ist das Romandebüt von Andrea Paluch und ihrem Mann Robert Habeck verfilmt worden. Ein gigantisches zweites Leben für den Stoff, wie die Autorin erzählt.
Erhellender Vers mit viel Lob
Storms bester Freund, der Historiker Theodor Mommsen (1817-1903), war übrigens der erste Deutsche – und damit auch der Erste aus Schleswig-Holstein – , der den Literaturnobelpreis 1902 bekam; für seine „Römische Geschichte“, nicht für diesen, allerdings auch sehr erhellenden Vers:
Guten Morgen, mein Werter, wie sind Sie doch grob!“
„In Holstein, Verehrter, ist das ein Lob!Vers von Theodor Mommsen
Witz, Hintersinn und Lakonie in einem Wort
Dieser Witz, dieser Hintersinn, die Lakonie, die gern mit einem Wort ausdrückt, wofür andere Dutzende benötigen, sind charakteristisch für diesen Landstrich, sagt Feridun Zaimoglu, der vor mehr als 40 Jahren zum Studieren nach Kiel zog – und blieb.
Unauffällig, aber konstant blitzt die Landeshauptstadt in seinen Romanen auf, eine stille, große Liebe. „Ich liebe den Menschenschlag hier, ich liebe diesen ganz besonderen, versteckten Humor, und das ist die Antwort auf die Frage, wieso ich diese Stadt so liebe und diese Stadt nicht nur als Aufenthaltsort ansehe“, sagt er. Nirgendwo sonst lache er so viel und so oft wie in Kiel.
Blick aufs Meer und die Geschichten
Aber natürlich begründet auch Zaimoglus Zuneigung zur Region der Blick aufs Meer, das so viele Geschichten birgt. Caroline Wahl, die mit ihren Romanen „22 Bahnen“ und „Windstärke 17“ zur literarischen Senkrechtstarterin der vergangenen zwei Jahre wurde, ist ebenfalls gerade dabei, sich in Kiel zu verlieben: „Ich finde an Kiel allein schon cool, dass man von der Kiellinie die Öffnung zum Meer sieht. Das ist mir so wichtig. Ich gehe da jeden Tag einmal hin und denke: Hach, schön, man sieht die Hoffnung zum Meer. Irgendwie ist mir dieses Offene sehr wichtig.“
Erst im vergangenen Jahr ist Caroline Wahl hierhin gezogen, zuvor hatte sie auch sehr gern, wie sie betont – in Rostock gelebt. Ob es dort etwa ähnlich gute Geschichten gibt?
Mit ihrem Debütroman gelang der in Rostock lebenden Schriftstellerin ein Bestseller. Nun hat sie eine Fortsetzung geschrieben: „Windstärke 17“.
Im Roman stellt die Hamburger Autorin existenzielle Fragen. Dafür hat sie am Donnerstag den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen.
Noorts Roman zeigt schlaflose Frauen, die durch neue Begegnungen Mut schöpfen, festgefahrene Strukturen zu verlassen.
Schlagwörter zu diesem Artikel