In Europa wird massiv aufgerüstet. Die Nato-Mitglieder haben sich darauf verständigt, fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Aufrüstung zu investieren. Wohin wird diese Rüstungsspirale führen? Befürchtungen eines drohenden großen Krieges werden lauter. Robert Skidelsky setzt sich für eine Friedenslösung in der Ukraine und Abrüstung in Europa ein. Der Wirtschaftshistoriker ist Mitglied im House of Lords, dem britischen Oberhaus. Dort hält er Reden, in denen er vor einer kriegerischen Eskalation in Europa warnt. Er veröffentlichte einen Offenen Brief zusammen mit ehemaligen britischen und amerikanischen Diplomaten in der Financial Times, in dem sie aufriefen, sich für einen Waffenstillstand in der Ukraine einzusetzen. Die Berliner Zeitung sprach mit Robert Skidelsky über die laufenden Gespräche zwischen Russland und der Ukraine, die drohenden Folgen des europäischen Rüstungs-Keynesianismus und die Rolle der Medien im Krieg.

Mr Skidelsky, wie erklären Sie sich, dass die USA zwischen Russland und der Ukraine Friedensgespräche vermitteln, die Europäer aber immer weiter auf Krieg setzen?

Die beiden Politikansätze sind völlig konträr. Europa hat sich ziemlich konsequent auf einen ukrainischen Sieg fokussiert. Die Selenskyj-Regierung hat die Bedingungen gestellt, Großbritannien und die EU haben sie akzeptiert. Trump hat nun mit der Nato-Position gebrochen. Er hat erklärt, dass er einen Verhandlungsfrieden will. Ob er ihn bekommt, steht zwar auf einem anderen Blatt, die Europäer haben sich aber nie für einen Verhandlungsfrieden ausgesprochen.

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Zur Person

Robert Skidelsky (geboren 1939 in Harbin, China) ist ein britischer Wirtschaftshistoriker. Er studierte Geschichte in Oxford und lehrte als Professor für politische Ökonomie an der Universität Warwick. Bekannt wurde er durch seine monumentale, vielfach ausgezeichnete Biografie von John Maynard Keynes. 1991 wurde er als Baron Skidelsky geadelt und ist seitdem Mitglied des House of Lords.

Warum, denken Sie, sind die EU und das Vereinigte Königreich so sehr an einem anhaltenden Krieg in der Ukraine interessiert?

Die Aggressivität Großbritanniens ist erstaunlich. Es hat etwas mit Russophobie zu tun, den alten, antirussischen Gefühlen, die nicht erst aus dem Kalten Krieg stammen. Es ist eine imperiale Nostalgie. Das offizielle Denken in Großbritannien ist zweifellos ein kriegerisches Denken. Für mich ist das sehr schwer nachzuvollziehen. Es gibt keine nennenswerte Friedensbewegung in Großbritannien. Der Grund dafür ist sicherlich, dass in diesem Stellvertreterkrieg keine britischen Menschenleben geopfert werden. Es gibt auch keine intellektuelle Opposition. Ich bin einer der wenigen Menschen in unserem Land, die sich öffentlich und konsequent für einen Verhandlungsfrieden ausgesprochen haben. Und wir sind isoliert. Es ist sehr schwer, in der Mainstream-Presse dieses Landes etwas zu veröffentlichen, was der offiziellen Meinung widerspricht.

Bislang wurden nach den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul nur Gefangene ausgetauscht. Glauben Sie, dass es bald zu einem Waffenstillstand kommen wird?

Nein, das dachte ich früher. Als Trump gewählt wurde, ging ich davon aus, dass es innerhalb von sechs Monaten einen Waffenstillstand geben würde. Jetzt glaube ich das nicht mehr. Russland misstraut den USA – und das aus gutem Grund. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die USA den Russen Versprechungen gemacht, die oft gebrochen wurden. Jetzt sollen die Russen auf Basis von Trumps Versprechungen einen Frieden schließen. Aber welchen Einfluss wird Trump in drei Jahren überhaupt noch haben?

Denken Sie, Russland will die Ukraine ganz erobern?

Russland will einen ausreichenden Sieg in der Ukraine erringen, damit es zuversichtlich mit den Friedensgesprächen fortfahren kann. Moskau will sich einen entscheidenden militärischen Vorteil sichern. Russland will die Krim behalten und auch den Donbass vollständig zurückerobern. Wenn es dann keine weiteren Fortschritte in den Verhandlungen gibt, sind die Russen wahrscheinlich bereit weiterzumachen und werden versuchen, die Eroberung der Ukraine zu vollenden. Trump bietet eine unglaubliche Gelegenheit, den amerikanisch-russischen Dialog wieder aufzunehmen und Russland in die führende Position bei den Verhandlungen zu bringen. Das ist eine fantastische Gelegenheit für Russland. Aber Putin hat sie nicht ergriffen. Er vermag es bislang nicht, den Moment zu nutzen, um die amerikanisch-russischen Beziehungen neu zu gestalten.

Sie sagen, dass die USA Russland falsche Versprechungen gemacht haben. Welche meinen Sie?

Die Russen sprechen immer von dem Versprechen, das die USA 1990 Gorbatschow gegeben haben sollen. Im Gegenzug für seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung und zum Abzug der russischen Truppen aus Deutschland sollte die Nato nicht erweitert werden. „Nicht einen Zentimeter weiter nach Osten“, lautete die Formulierung des damaligen US-Außenministers James Baker. Aus dieser Lektion sagt die russische Führung: Wir können einem Abkommen in der Ukraine nicht zustimmen, das sich nur auf eine amerikanische Garantie stützt. Moskau kann sich nicht darauf verlassen, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato wird oder dass die westlichen Sanktionen aufgehoben werden. Russland versucht deshalb, die eigene Position in der Ukraine zu festigen, bevor es wirklich einem ernsthaften Waffenstillstand zustimmen wird. Das ist unter Putins Äußerungen zu verstehen, wenn er sagt, dass Russland und der Westen eine grundsätzliche Einigung erzielen müssen.

Auf der einen Seite will Trump Friedensverhandlungen in der Ukraine. Aber auf der anderen Seite will er, dass die Nato mehr Geld ausgibt, damit sich die Nato gegen Russland verteidigen kann. Was denn nun?

Die USA sind in der Welt überengagiert. Der Hegemon wird schwächer. Die USA können die Welt nicht mit all den öffentlichen Gütern versorgen, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereitstellen wollten. Deshalb soll Europa höhere Verteidigungsausgaben stemmen. Amerika ist nicht mehr stark genug, um das zu tun. Es muss Prioritäten setzen, und die wirkliche Schlacht um die Zukunft wird zwischen Amerika und China ausgefochten werden.

Die Ukraine greift immer wieder Ziele in Russland an, und Russland rückt in der Ukraine auf dem Schlachtfeld vor. Insofern ist ein Frieden überhaupt nicht in Sicht. Oder sehen Sie das anders?

Nein, ich denke, es ist sehr gefährlich. Die Europäer ermutigen die Ukraine, Raketenangriffe auf russisches Gebiet durchzuführen. Ich bin mir nicht sicher, welche Rolle sie bei der jüngsten Runde dieser Angriffe auf russische Luftwaffenstützpunkte gespielt haben, was die Bereitstellung von Ausrüstung, nachrichtendienstlichen Informationen, logistischer Unterstützung und so weiter angeht.

Sie meinen, dass Nato-Staaten hinter den ukrainischen Angriffen stecken?

Es heißt, dass die Angriffe der ukrainischen Operation Spinnennetz 18 Monate lang geplant wurden. Da kann man sicher sein, dass die Ukrainer es nicht auf eigene Faust getan haben. Sie arbeiten Angriffspläne mit ihren Verbündeten aus. Europa führt einen Stellvertreterkrieg. Selbst der frühere Premierminister Boris Johnson hat das zugegeben. Russland schlägt zurück, und dann gibt es wieder einen Gegenschlag der Ukraine. Der Krieg eskaliert allmählich nicht mehr nur auf dem Boden, sondern auch in der Luft. Das macht den Frieden schwieriger, weil jede Seite nun ein Motiv hat, weiter zu kämpfen, und das sogar auf einem höheren Niveau. Wenn unsere Regierungen die Ukraine mit moderneren Waffen beliefern, wird das die ukrainischen Angriffe auf Russland noch verstärken.

Stehen Sie eigentlich in Kontakt mit der russischen oder der ukrainischen Botschaft in London?

Ich stehe nicht in Kontakt mit der ukrainischen Botschaft. Vor zwei Jahren habe ich zuletzt die russische Botschaft zu einem Empfang am Nationalfeiertag besucht. Ich ging dorthin, weil ich meinen Respekt zeigen wollte. Aber heute denke ich, die Herren schlemmen Champagner und Kaviar, während Ukrainer auf dem Schlachtfeld sterben. Deshalb bin ich nicht mehr hingegangen. Ich denke trotzdem, wir müssen den Dialog mit den Russen aufrechterhalten. Aber ich habe heute keinen laufenden Dialog mit einem russischen Beamten.

Die EU folgt Trump in den meisten außenpolitischen Fragen. Wann, glauben Sie, werden Deutschland, Frankreich und Großbritannien aufhören, Waffen an die Ukraine zu liefern?

Sie werden enden, wenn der Waffenstillstand vereinbart ist. Teil eines jeden Friedens muss das Ende dieser Lieferungen sein. Das haben die Vereinigten Staaten angekündigt. Sie werden keine weiteren Waffen an die Ukraine liefern, weil sie wissen, dass Europa das übernimmt. Natürlich muss die Ukraine bei jedem Frieden in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Das versteht sich von selbst.

Also sollen die Europäer doch weiter Waffen an Kiew liefern?

Nein, meiner Meinung nach lassen sich Sicherheitsinteressen am besten durch einen Friedensvertrag mit bestimmten Bedingungen erreichen. Die Unabhängigkeit der Ukraine muss mit der russischen Sicherheit vereinbar sein.

Was aber, wenn Russland weitere Länder überfällt?

Ich glaube nicht an die Lüge, die wir jetzt endlos hören, dass Russland nur ein Ende der Kämpfe in der Ukraine zu seinen eigenen Bedingungen will, um dann den Weg für die nächste Runde seiner Expansionen vorzubereiten. Es heißt, Russland wird in die baltischen Staaten, Georgien, Moldawien, Polen und schließlich nach Westeuropa einfallen. Warum gibt es diese Art von Kriegslust in der öffentlichen Rhetorik? Im Übrigen haben die Russen aus verständlichen Gründen ziemlich bittere Erinnerungen an die Deutschen. Sie mögen die Vorstellung nicht, dass das föderale Deutschland eine wiederbewaffnete Macht wird.

Der Krieg hat auch wirtschaftliche Gründe. Welche ökonomischen Ziele werden im Westen mit dem Ukrainekrieg verbunden?

Es ist ein korruptes keynesianisches Programm. Die neoliberale Ökonomie lehnt die Idee der keynesianischen Konjunkturpolitik ab. Um öffentliche Investitionen in Gang zu setzen, brauchen sie einen Vorwand. Die Ausrede ist die nationale Sicherheit. Wenn sie dieses Banner schwenken, werden alle steuerlichen und fiskalischen Regeln fallen. Welche Bedeutung haben Haushaltsregeln, wenn die Nation in Gefahr ist? Plötzlich wird so viel Geld wie möglich ausgegeben. Ich nenne es militärischen Keynesianismus. Es ist sehr gefährlich. Keynes selbst wäre gegen solche Aufrüstungsprogramme gewesen. Er war immer sehr gegen den Krieg. Er sagte, Krieg entsteht, wenn die Menschen zu dumm sind, um die Bedingungen des Friedens zu verstehen. Aber nun geschieht es in Großbritannien, in Deutschland und in der Europäischen Union.

Die immensen Aufrüstungsprogramme erinnern an längst vergangen geglaubte Zeiten wie den Vorabend des Ersten Weltkriegs. Welche Ausmaße drohen uns noch?

Selbst im Kalten Krieg wurden viele Militärausgaben getätigt, die einen recht hohen Anteil an den nationalen Haushalten ausmachten. Aber schon 1961 warnte US-Präsident Eisenhower vor dem militärisch-industriellen Komplex. Gerade schaffen wir einen militärisch-industriellen Komplex in Europa. Es besteht die Gefahr, dass unbegrenzt Geld in die Rüstungsindustrie fließt. Ich hasse dieses Hochspielen von Gefahren. Wir leben in einer gefährlichen Welt. Aber wir sollten erwachsen genug sein, um zu erkennen, wie wir diese Gefahren überwinden können, ohne sie die ganze Zeit hochzuspielen.