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Eine russische Einheit übt den Angriff mit Geländemotorrädern – hinter dem Fahrer hockt als Schütze ein Infanterist.Erinnert an Mad-Max-Filme genauso wie an John Wayne: Russische Truppen setzen mittlerweile auf Infanterie-Angriffe auf Geländemotorrädern. Den größtenteils selbstmörderisch geführten und scheinbar wenig ertragreichen Attacken hält die Ukraine allerdings inzwischen mit einer eigenen Motorrad-Angriffseinheit entgegen. Auch die Ukraine glaubt, mit dieser Waffe Gewinne erzielen zu können. © IMAGO/Stanislav Krasilnikov

Selbstmordkommando oder neuer Ansatz in einem festgefahrenen Krieg? Russland setzt auf Angriffe mit Zweirädern, und die Ukraine kopiert diese Taktik.

Moskau – „Für mich sieht das aus wie eine reine Selbstmord-Mission“, sagt Chip Chapman. Den früheren Generalmajor der britischen Streitkräfte nutzt die britische Sun als Kommentator bisher nie da gewesener Bilder von der Front in der UkraineWladimir Putins Invasionsarmee setzt auf einzelne Motorradschützen, die durch einen Bombenhagel hindurch versuchen, Raum zu gewinnen. Die Sun warnt am Anfang des Youtube-Videos explizit, dass diese Bilder aus dem Ukraine-Krieg nichts für Zartbesaitete seien.

Was durchaus stimmt. Sie machen erneut deutlich, wie viel der russischen militärischen Führung ein Menschenleben wert ist: nichts. Das ukrainische Militär bezeichne die Motorradangriffe als „Banzai-Attacken“, schreibt CNN. „Sie können sehr schnell vorrücken und hinter die Linien gelangen“, zitiert der US-Nachrichtensender Andriy Otchenash über den Auftrag an die Soldaten, doch die Verluste auf russischer Seite seien sehr hoch, sagt er. Russland versuche damit einen Blitzkrieg zu führen und zu gewinnen, so der ukrainische Kommandant.

Putins Biker: So viel Zerstörung wie möglich anrichten, bevor sie getötet oder gefangen genommen werden

Aufgrund der knappen Zeit für die Notwendigkeit Land zu gewinnen beziehungsweise, um sich schnell zu bewegen, greift Russland jetzt offenbar verstärkt auf Einsätze mit geländegängigen Motorrädern zurück – lange schon ist bekannt, dass Russland auch auf Strandbuggys und Elektroroller gesetzt hatte. Mittlerweile entsteht der Eindruck, die Russen nutzen verzweifelt jedes Fahrzeug, dessen sie Herr werden können. Wie in den meisten militärischen Bewegungen ist Schnelligkeit in fast jeder militärischen Gefechtslage ein entscheidender Aspekt – dafür werden die motorisierten Schützen herangeführt; ihre Bezeichnung im Westen ist Panzergrenadier. In den Armeen des Ostens lautet die Bezeichnung motorisierter Schütze; die Aufgabe ist aber die gleiche.

„Obwohl der Kreml versucht, Motorradtaktiken als Lösung darzustellen, sind in der Realität vor Ort weiterhin schwere Verluste zu verzeichnen.“

Die Krafträder scheinen tatsächlich fast das letzte Aufgebot Putins zu sein – genauso für Spezialisten wie Scharfschützen oder Sanitäter. Die Maschinen stammen offenbar aus heimischer Produktion beziehungsweise aus China. Russland hätte eine unbegrenzte Zahl von Wehrpflichtigen, die er an die Front werfen könne, kommentiert Chapman das Video; da Putin mittlerweile die Mittel zum Erreichen seiner Ziele ausgingen, bliebe ihm wenig übrig außer diesen „Mad-Max‘-Attacks“, wie die Sun frotzelt. Und die Soldaten bliebe kaum etwas anderes übrig, als die Mission anzutreten und dann entweder in den Rücken geschossen zu werden oder ihr Glück zu versuchen, so der ehemalige Offizier.

„Die Einsätze auf Motorrädern sind eine zunehmende Taktik, bei der die Soldaten darauf abzielen, so viel Zerstörung wie möglich anzurichten, bevor sie getötet oder gefangen genommen werden“, schreibt Tom Ball. In der britischen Times behauptet er, das Ziel dieser „Selbstmord-Biker“ sei lediglich, Chaos anzurichten. Selbstmord-Kommandos scheinen in Russlands Kriegsführung ein essenzielles Mittel zu sein; über die jetzt mehr als drei Jahre, die der Krieg in der Ukraine läuft, ist immer wieder von solchen Einsätzen zu lesen gewesen.

Im Ukraine-Krieg für wichtig: „Niemandsland“ zwischen den Fronten möglichst zügig überwinden

Das Menschenbild der russischen militärischen Führung pointiert Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat.“ Das wiederum bringt den Verteidigern einen enormen psychologischen Schub, erklärt der österreichische Oberst Markus Reisner in seinen auf youtube ausgestrahlten Filmen über die Gefechtslage: „Bei der Motivation sind die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Vorteil, das hat der Verlauf des Kriegs gezeigt. Schließlich verteidigen die Männer und Frauen in der ukrainischen Armee Haus und Hof sowie das Leben ihrer Familien – sie wissen sehr genau, wofür sie kämpfen. Russlands Soldaten an vorderster Front können mit Wladimir Putins Kriegszielen dagegen wenig anfangen, sind sich Fachleute einhellig sicher.“

Tatsächlich soll hinter den wilden Reitern eine Strategie stecken, wie Tom Ball in der Times schreibt: Aufgrund der Dominanz der Drohnen auf dem Gefechtsfeld hat Putin im Sinn, einerseits das Gefechtsfeld mit beweglichen Zielen zu übersättigen, andererseits das „Niemandsland“ zwischen den gegnerischen Fronten möglichst zügig zu überwinden. Darum schickt er einzelne Schützen und die auf geländegängigen Motorrädern. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass selbst kleine Schützengruppen zu Fuß so langsam vorangekommen waren, dass sie nicht nur lohnende Ziele boten sondern auch regelmäßig leichte Beute wurden. Wie Analysten inzwischen sicher wissen, haben Piloten von FPV-Drohnen (First-Person-View) extreme Schwierigkeiten mit Zielen, die erstens eine geringe Fläche aufweisen und zweitens eine große Dynamik aufgrund hoher Geschwindigkeit.

Russlands „Wahrheit“: Der Feind „hört das Dröhnen der Motorräder und gerät in Panik“

Unter diesen Konstellationen treffen FPV-Drohnen vielleicht nur jedes zehnte Ziel. Deshalb scheint sich der Einsatz der motorisierten Schützen möglicherweise zu lohnen für die russische Armeeführung – deshalb setzt Russland möglicherweise gnadenlos auf diese Taktik, wie CNN berichtet: „Entschlossen, weiterhin ukrainisches Gebiet einzunehmen, scheinen Moskaus Kommandeure verwundete Soldaten bereits vor ihrer Genesung in den Kampf zurückgeschickt zu haben. Ukrainische Drohnenaufnahmen zeigen Männer auf Krücken, die auf Motorrädern zu ihren Linien geschickt wurden“, schreiben die Autoren Daria Tarasova Markina und Tim Lister.

Die Forces News des britischen Soldatensenders bfbs halten die Erfolgsbilanz russischer Motorradangriffe für dürftig, wie Simon Newton urteilt. Obwohl aktuell weder ein Waffenstillstand droht noch eine diplomatische Einigung auf zumindest vorläufige Grenzen, versucht Russland weiterhin Meter um Meter an Territorium zu gewinnen, um seinen Machtanspruch territorial möglichst weit auszudehnen und somit auch wieder Bewegung in den Stellungskrieg zu bekommen – tatsächlich sind die Motorräder die in diesem unwegsamen Gelände am schnellsten fortzubewegenden Fahrzeuge.

Und obwohl Russland auch mit strombetriebenen Bikes und E-Scootern experimentiert um die Geräuschemissionen zu minimieren, setzen die Truppen weiterhin auf benzingetriebene Motoren. Möglicherweise sogar auf schnellere und leichtere Zweitaktmotoren. Die Schwachstelle daran ist der Lärm, der den Piloten unmöglich macht, anfliegende Drohnen zu hören und rechtzeitig in Deckung zu gehen. Oder aber sie übersehen durch das ihnen aufgezwungene Tempo Landminen. Wie bfbs-Autor Newton schreibt, habe Russland durch einen gescheiterten Mad-Max-Angriff 15 Motorräder verloren sowie 40 Kräfte. „Obwohl der Kreml versucht, Motorradtaktiken als Lösung darzustellen, sind in der Realität vor Ort weiterhin schwere Verluste zu verzeichnen“, schreibt Newton.

Wie CNN berichtet hat, stellt Russland den Einsatz der Motorräder tatsächlich gänzlich anders dar. Was der bfbs-Autor als verräterischen Motorenlärm beschreibt, wird in der russischen Interpretation zum Fanal des Sieges – CNN weist hin auf einen Beitrag auf Russia Today, dem staatsfinanzierten Auslandsfernsehprogramm. Die hatte einen Soldaten der neu gegründeten 39. motorisierten Garde-Schützenbrigade interviewt und eine erstaunliche Aussage aufgenommen: „Unser Hauptvorteil ist, dass wir direkt in die feindlichen Stellungen vordringen und alle neutralisieren können“, sagte der. Der Feind „hört das Dröhnen der Motorräder und gerät in Panik. Sie verlassen einfach ihre Stellungen und fliehen.“

Selenskyjs Biker-Träume: „Kavallerie“-Angriffsgruppen zu bilden, die tiefe Durchbrüche erzielen

Auch im jetzt aufgetauchten Video sieht das komplett anders aus. Allerdings will die Ukraine jetzt mit gleicher Münze heimzahlen. Im Mai hatte das Magazin Militarnyi berichtet, dass auch die Ukraine künftig auf motorisierte Kavallerie setzt: Als Teil des 425. separaten Sturmregiments Skala sei die erste Sturmmotorradkompanie gegründet worden – deren youtube-Video erinnert an einen modernen Western: zwei Mann auf einem Bike, und der Sozius schießt mit der Kalaschnikow, die auf der Schulter des Fahrers angelegt ist. Von der Realität des Krieges und den Leiden ist im russischen Video mehr zu sehen.

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Die Ukraine hat für ihre Einheit auch konkrete Einsatz-Vorgaben, die stark an Panzerangriffe des Zweiten Weltkriegs erinnern: Von Schwärmen von 30 bis 50 Motorrädern schreibt Militarnyi und von Verbänden, die auf einer Frontbreite von 600 Metern und einer Vorstoßtiefe von bis zu 1,5 Kilometern. Alles vorerst unter Übungsbedingungen. Also ohne Feindkontakt. Aber für den Moment hat die ukrainische Militärführung schon konkrete Vorstellungen, wie Militarnyi schreibt:

„Das ultimative Ziel des Trainings besteht darin, Angriffsgruppen zu bilden, die tiefe Durchbrüche erzielen und ihre Positionen drei bis vier Tage lang halten können, während sie auf Verstärkung warten.“