Es ist 17 Uhr in Berlin, viele Menschen machen Feierabend, aber statt laufender Motoren ist nur gelegentlich eine Fahrradklingel zu hören. Das ist die Vision die Initiatoren der Petition „Berlin autofrei“ haben. Sie streben im Berliner S-Bahn-Ring eine weitgehend autofreie Zone an – der Ring schließt die gesamte Innenstadt ein. 2022 legte der Berliner Senat Klage vor dem Berliner Verfassungsgericht gegen den Gesetzesentwurf ein – er sah eine Verletzung der Verfassungsrechtlichkeit. Dem widersprach das oberste Gericht am Mittwoch. Der Volksentscheid dürfe stattfinden.
Doch welche Vor- und Nachteile hat eine „autofreie“ Stadt eigentlich? Anne Klein-Hitpaß ist Leiterin des Forschungsbereichs Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) in Berlin. Mit Blick auf die Verkehrsstruktur von deutschen Städten sagt sie: „Viele Städte leiden noch unter den Fehlern der Vergangenheit.“ In den Jahrzehnten der Nachkriegszeit wurden unsere Städte autogerecht umgebaut, dabei sei es immer stark um die Erreichbarkeit mit dem PKW gegangen. „Der Mensch, zu Fuß oder auf dem Rad, geriet dabei buchstäblich an den Rand“, erklärt die Mobilitätsforscherin.
Mittlerweile findet ein Umdenken statt. Mehrere europäische Hauptstädte bauen ihre Innenstädte um, es gibt verschiedenste Modelle. Erst zu Beginn des Jahres hat Paris in einer Bürgerbefragung entschieden, 500 Straßen für Autos zu sperren. Oslos Stadtzentrum ist schon seit Jahren so gut wie autofrei und die Niederlande haben schon in den 1970er-Jahren begonnen, den Autoverkehr in Amsterdam zu reduzieren. „Städte stehen vor zwei zentralen Aufgaben: Sie müssen sich an die Folgen der Klimakrise anpassen und zugleich eine nachhaltige Mobilität sichern“, sagt Klein-Hitpaß und bezieht sich dabei auf die alternde Gesellschaft. Das durch den Klimawandel und seine Folgen eine Verkehrswende nötig ist, die die CO2-Emissionen minimiert, ist klar. Für Klein-Hitpaß gibt es aber auch heute schon sehr konkrete Gründe, Autos in Innenstädten zu reduzieren, gerade die, die parken. Meteorologen rechnen wieder mit einem Hitzesommer, gerade Städte heizen sich extrem auf. „Ein parkendes Auto speichert Hitze – ein Baum spendet Schatten, verdunstet Wasser und kühlt die Umgebung“, sagt Klein-Hitpaß.
Der Wissenschaftlerin zufolge kann Deutschland von den Niederlanden lernen. Auch weil die Niederländer nicht signifikant weniger Autos pro 100.000 Einwohnenden besitzen. Geplant würde dort sowohl für das Auto als auch für andere Fortbewegungsarten. So würde beispielsweise aus dem Auto-Etat auch mal eine Fahrradbrücke finanziert, die dann wiederum den PKW-Verkehr entlaste: „Die Verkehrsplanung in den Niederlanden ist viel stärker integriert“, so Klein-Hitpaß.
Es gibt aber auch starke Gegenstimmen zu Initiativen wie „Berlin autofrei“ – gerade der Einzelhandel sorgt sich, ob noch genug Menschen in die Innenstädte kommen, wenn sie nicht direkt mit dem Auto anreisen können. So auch der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMW). Geschäftsführer Christoph Ahlhaus sagte unserer Redaktion: „Der ideologische Röhrenblick behindert die Sicht auf die Chancen einer vielfältigen Mobilität für die Zukunft unserer Wirtschaft.“ Der BVMW halte wenig von „Verbotsexzessen“, die moderne Volkswirtschaft könne nicht mit dem Lastenfahrrad am Laufen gehalten werden. Auch Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverband Deutschland (HDE), ist gegen ein rigoroses Autoverbot. Zwar müssten die Innenstädte klimaresilient werden, dazu würde auch Entsiegelungen gehören, die die Straßengestaltung nachhaltig verändern werde. „Hierfür aber einzelne Verkehrsmittel aus allen Zentren zu verbannen, kann nicht die Lösung sein“, sagte er unserer Redaktion. „Innenstadtbesucher müssen mit dem Verkehrsmittel ihrer Wahl bequem ins Zentrum kommen, ob mit dem ÖPNV, dem Fahrrad oder dem Auto.“
Komplett autofrei sind tatsächlich weder Amsterdam noch Oslo. Und auch die Initiative „Berlin autofrei“ will nicht alle Autos aus dem Ring verbannen. Mit Ausnahme der Bundesstraßen sollen private Autofahrten auf zwölf Fahrten pro Person und Jahr beschränkt werden. Menschen mit Behinderungen, Busse, Rettungswagen, Polizei, Feuerwehr, Taxen und Lieferwagen sollen ebenfalls von der Regelung ausgenommen sein. Aber wie steht es um den Einzelhandel in verkehrsberuhigten Innenstädten? Laut Klein-Hitpaß gibt es keine wissenschaftlichen Beweise, dass der Einzelhandel in verkehrsberuhigten Innenstädten leidet, im Gegenteil: „Verkehrsberuhigung macht Innenstädte attraktiver – und wo sich Menschen gerne aufhalten, geben sie auch Geld aus.“ „Menschen lehnen Wandel oft reflexhaft ab“, sagt sie. Dabei würden sie aber ihre eigene Anpassungsfähigkeit unterschätzen. „Verkehrsversuche zeigen: Wird Veränderung erlebbar, folgt die Akzeptanz meist schneller als gedacht.“
Nun bleiben noch die Kosten. Parkplätze abbauen, neue an den Randgebieten schaffen, den öffentlichen Nahverkehr ausbauen, Bäume pflanzen – all das kostet schließlich Geld. Das würde drauf ankommen, was man denn aufrechnet. Allein 2021 hat der Bund rund 70 Milliarden Euro für das Straßennetz ausgegeben, eingenommen hat er 25 Milliarden. „Diese Lösungen dürfen Geld kosten“, sagt Klein-Hitpaß. „Denn das Auto verursacht selbst Kosten – für Fläche, Bewirtschaftung und Unterhalt.“