Wenn hunderte Menschen eine derartige Stille produzieren können, dann müssen sie sich in einer Kirche befinden. Als die acht Britinnen und Briten am Freitagabend zu ihrem ersten Stück anheben, hält nicht nur St. Sebald, sondern gefühlt ganz Nürnberg den Atem an. Voces8 aus England eröffnen, ganz orgellos, das Musikfest ION, bis 2019 bekannt als Internationale Orgelwoche Nürnberg. Nur ihre Stimmen füllen an diesem Abend die Schiffe von Nürnbergs ältester Kirche, die zwischen Hauptmarkt und Burg über der Stadt thront.
Festivalleiter Mortitz Puschke erörterte zur Begrüßung das Konzept des diesjährigen Musikfests: Es steht, aus aktuellem und historischem Anlass, unter dem Motto „Wo ist Frieden?“. Die eingeladenen Gruppen, Bands, Ensembles und Solomusikerinnen haben eigens für Nürnberg friedvolle Konzertprogramme konzipiert: „Da Pacem“ („Gib uns Frieden“) ist das Eröffnungskonzert überschrieben.
Voces8, die in diesem Jahr ihr 20. Jubiläum feiern, zählen zu den renommiertesten reinen Vokalensembles der Welt. Man traut sich kaum mitzuschreiben, geschweige denn die Sitzposition auf der Kirchenbank zu verändern, so zart schrauben sich diese acht Stimmen in sanfter Harmonie gen Kirchendecke. Die Briten haben sich einen Ruf als Spezialisten für Renaissance-Werke ersungen und so stammen auch die ersten Stücke in Nürnberg aus dem 16. Jahrhundert und von Orlando Gibbons und Thomas Tallis.
Die historische Literatur findet immer wieder mit Gegenwartskompositionen zusammen, unter anderem vom Mitbegründer des Ensembles, Paul Smith und, zweifach vertreten Arvo Pärt. So oder so: Inhaltlich hält man sich ans Gebet, an die engelsgleiche Anrufung der Engel. Der Sopran durchschneidet sanft die Wellen der anderen Vokalgruppen, bevor alle wieder gemeinsam in denselben Fluss steigen. Diese Stimmung ist im besten Sinne brav, andächtig, erst Edvard Elgars „Lux Aeterna“ hebt so richtig ab.
Es ist eine interessante Wahl der Festivalleitung, das ION mit diesem zwar sehr beliebten, aber eben auch dezenten, leisen Ensemble zu eröffnen. Voces8 ist A-Cappella für Fortgeschrittene, für jene, die die Feinheiten und Details, die Streckenführung einander sich umgarnender Gesanglinien heraushören können.
Aus der von den Sängern – keiner ohne passendes Einstecktuch im Maßsakko – mit feinem britischen Humor versetzten Moderation erfährt man unter anderem, dass eine Vielzahl der Werke des Komponisten Hubert Parry im Ersten Weltkriegs verloren gingen. In seinen letzten Kompositionen, „Songs Of Farewell“, wird der Frieden zu einer aufgeschobenen Hoffnung: wenigstens im Himmel …
Auf zwei Stunden inklusive Pause angelegt, gerät das Konzert von Voces8, auch wegen der sehr getragenen Auswahl der Stücke, eher zu einer gemeinsamen Meditation, nahe am Gebet. Als die letzten Töne von Allegris großem „Misererei Mei“ verklungen sind, reißt es das Nürnberger Publikum dennoch zu stehenden Ovationen aus den Kirchenbänken.
„Imagine all the people livin’ life in peace.” John Lennon, hier im Jahr 1974, ist ein Tribute-Abend gewidmet. (Foto: Tony Barnard , Musikfest ION)
Das Musikfest ION geht bis zum 6. Juli. Seit Moritz Puschke es übernommen hat, wurden die Besucherzahlen, laut Eigenaussage, mehr als verdoppelt. Das Festival vereint mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit die geistliche mit der weltlichen Musik, nur gehalt- und anspruchsvoll muss es sein. Das Chorwerk Ruhr wird unter anderem Francis Poulencs Partitur des Friedens, „Figure humaine“, singen (30. Juli), der Windsbacher Knabenchor tritt gemeinsam mit der Lautten Compagney aus Berlin auf (2. Juli), eine All-Star-Band rund um Inga Rumpf widmet sich John Lennons Werk (3. und 4. Juli), Schauspieler Charly Hübner singt sowohl Schuberts „Winterreise“ als auch Songs von Nick Cave (4. und 5. Juli). Und auch die Orgeln der Nürnberger Kirchen werden immer wieder von den besten Musikerinnen und Musikern bearbeitet.
Zum Abschluss am 6. Juli kommen der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester in die Sebalduskirche. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, das Oratorium „A Child of Our Time“ von Michael Tippett zu erleben. Entstanden zwischen 1939 und 1941, erzählt es im Angesicht der Nazi-Herrschaft eine Geschichte der Menschlichkeit, der Überwindung von Gewalt und der Versöhnung. Und antwortet auf seine Weise auf die Frage „Wo ist Frieden?“
Musikfest ION Nürnberg, bis Sonntag, 6. Juli, diverse Orte, Infos unter www.musikfest-ion.de