Die Tragweite seiner Worte waren Jens Spahn sehr bewusst. „Ich weiß, welche Abwehrreflexe sich jetzt sofort regen“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Union im Interview mit der „Welt am Sonntag“, in dem er einen deutschen Zugriff auf Atomwaffen forderte. Nur mit Stärke lasse sich Russland unter Präsident Wladimir Putin einschüchtern, so Spahn. „Wer nicht nuklear abschrecken kann, wird zum Spielball der Weltpolitik.“
Und wie von Spahn prognostiziert, lässt die Kritik an seinem Vorstoß, dass über eine deutsche oder europäische Teilhabe am Atomwaffen-Arsenal Frankreichs oder Großbritanniens gesprochen werden müsse, nicht lange auf sich warten. Selbst aus den Reihen der schwarz-roten Koalition fallen die Reaktionen vernichtend aus.
„Ich schlage vor, dass die Bundesregierung eine Führungsrolle bei der Aufklärung der Masken-Deals einnimmt und sich im Übrigen an die Verpflichtungen aus dem internationalen Atomwaffensperrvertrag hält“, sagte der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer dem Tagesspiegel.
Er vermutet ein Kalkül hinter dem Zeitpunkt der Äußerungen des CDU-Politikers. „Jens Spahn produziert aktuell doch vor allem Schlagzeilen, um von den eigenen Skandalen abzulenken“, sagte Türmer am Rande des SPD-Parteitags in Berlin.
Mit dieser Sicht ist Türmer in der SPD nicht allein, auch wenn kaum jemand das so offen ausspricht. Spahn habe in der Pandemie milliardenteure Maskendeals zu verantworten, erklärt eine Spitzengenossin. „Jetzt lenkt er mit atompolitischen Gedankenspielen davon ab. Sicherheit entsteht nicht durch Aufrüstungsspektakel, sondern durch Verlässlichkeit in der Bündnispolitik“, sagte sie. Die SPD setze auf eine starke NATO und den Ausbau der europäischen Verteidigungskooperation, „nicht auf deutsche Führungsfantasien bei Atomwaffen.“
Jens Spahn macht Selbstverteidigungspolitik und nicht Verteidigungspolitik.
Grünen-Politikerin Sara Nanni hält Spahns Vorschlag für unseriös.
Diese Ansicht teilt man auch in der Opposition. „Dieser Vorschlag ist Teil eines groß angelegten Ablenkungsmanövers, damit die Bevölkerung sich nicht mit weiteren Details zu Spahns Maskenaffäre beschäftigt, die den Steuerzahler noch viele Milliarden Euro kosten wird“, sagte die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, dem Tagesspiegel.
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Spahn gehe es nicht um eine ernsthafte Debatte, sondern nur um seine eigene politische Zukunft, vermutet Nanni. „Jens Spahn macht Selbstverteidigungspolitik und nicht Verteidigungspolitik.“
Doch auch inhaltlich lehnt sie den Vorstoß ab, schließlich seien entscheidende Fragen nicht geklärt: „Seit vielen Jahren sind die Details dieses Vorschlags ungeklärt. Putin wird nicht abgeschreckt werden, wenn wir noch nicht einmal wissen, wer im Notfall das Knöpfchen für die europäische Atombombe drückt.“
Tatsächlich war Spahn in dem Interview nicht allzu sehr in die Details gegangen, wie Deutschland an Atomwaffen beteiligt werden solle. Es brauche eine deutsche Führung, hatte Spahn gefordert und vage von einem rotierenden Zufallsprinzip gesprochen. „Frankreich wird uns an seinen roten Knopf, um im Bild zu bleiben, ziemlich sicher nicht ranlassen.“ Auch die enormen Kosten für ein solches Vorhaben räumte Spahn ein.
Deutschland und Europa sind abhängig von den USA
Dabei warnen Experten schon länger vor einer Abhängigkeit, denn unter US-Präsident Donald Trump sind die USA – die größte Nuklearmacht der Welt – unberechenbar geworden. Ob die Nato-Teilhabe, also die Benutzung amerikanischer Atomwaffen, die teilweise auch in Deutschland gelagert sind, im Ernstfall wirklich garantiert ist, daran gibt es Zweifel.
Europa sei auf die Nato-Teilhabe und den US-Schirm angewiesen, räumt auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann ein. Die FDP-Politikerin ist Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung im EU-Parlament und warnt: „Frankreichs eigene Atomstreitkräfte reichen nicht aus, zumal sie keine taktischen Nuklearwaffen haben, um alleinige Sicherheit zu gewährleisten.“
Doch auch die Liberale betont im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass sich Spahns Vorschläge nicht so einfach umsetzen lassen. „Ein eigener europäischer Schutzschirm wäre nur als Teil eines gemeinsamen, institutionellen Ansatzes denkbar – und würde große sicherheitspolitische und strukturelle Herausforderungen mit sich bringen.“
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Der Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, äußerte grundsätzliche Kritik an Spahns Vorschlag: „Spahn spielt mit einem sehr gefährlichen Feuer. Niemals dürfen Atomwaffen wieder normal werden“, sagte van Aken dem Tagesspiegel.
Jede Debatte über deutsche Atomwaffen oder nukleare Führungsrollen würde unweigerlich zu einer Normalisierung dieser schrecklichsten aller Waffen führen, argumentierte der Linken-Politiker: „Diese Debatte – und dieser Jens Spahn – sind eine Gefahr für die Sicherheit Europas und der Welt.“