Aktuell liegen zwischen dem türkischen Gasunternehmen BOTAŞ und dem russischen Gaskonzern Gazprom Gespräche zu Vertragsverlängerungen an. Auch LNG-Lieferungen stehen für die Türkei zur Debatte. Das soll Ausfällen entgegenwirken, die mit dem Ausstieg der Europäischen Union aus Gasimporten von Russland einhergehen.
Türkei-Geschäfte: Indien dient Russland als Vorlage
Als die Sanktionen gegen russische Ölimporte der EU in Kraft traten, entwickelte sich Indien als Drehkreuz für Ölprodukte im Gemisch mit Rohöl aus Russland, die in Europa Absatz finden. Ähnliche Entwicklungen nehmen in der Türkei Gestalt an. Der Weg für russische Gasmoleküle nach Europa soll jetzt offenbleiben. Im Rahmen des internationalen Petersburger Wirtschaftsforums traf sich der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar mit Gazprom Chef Alexej Miller und dem 1. Vizepremier Alexander Nowak. „Insbesondere wurde die Frage der Gasexporte aus Russland in die Türkei erörtert“, teilte hierzu Gazprom am 19. Juni mit. Es sei um alle Aspekte der Zusammenarbeit im Erdgasbereich gegangen, die einen der Eckpfeiler der Energiebeziehungen zwischen den Staatsunternehmen BOTAŞ und Gazprom bilden und Möglichkeiten zur weiteren Vertiefung dieser Zusammenarbeit gegangen, erklärte Bayraktar auf Twitter.
Europa plant den Ausstieg
In der offiziellen Regierungsmitteilung der Türkei hieß es, dass Bayraktar und Nowak über die Etablierung eines Gashubs in der Türkei gesprochen hätten. Vorgeschlagen hatte dies Präsident Wladimir Putin bereits im Herbst 2022. Seither folgten verbale Bekräftigungen von beiden Seiten, aber keine konkreten Schritte. Zugleich ist die Türkei als Verteilstation für russisches Pipeline-Gas an Europa das letzte verbliebene Eintrittstor, um diesen Markt nicht komplett zu verlieren.
Am 17. Juni legte EU-Kommission einen Legislativvorschlag zum Ausstiegsfahrplan aus russischen Energieträgern vor. Demnach sollen die russischen Gasimporte per Schiff und Pipeline bis Ende 2027 enden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte: „Russland hat wiederholt versucht, uns zu erpressen, indem es seine Energielieferungen als Waffe eingesetzt hat. Wir haben klare Schritte unternommen, um den Öl- und Gashahn zuzudrehen und die Ära der fossilen Brennstoffe aus Russland in Europa endgültig zu beenden.“
Vertragsbedingungen sollen vorteilhaft sein
Energieminister Bayraktar unterstrich indes gegenüber der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, dass Russland für die Türkei einer der größten Energielieferanten sei. Das betreffe Lieferungen von Öl, Erdgas und Kernenergie ebenso wie Kohle und Ölprodukte „Wir pflegen eine langjährige Energiekooperation mit Russland“, so Bayraktar weiter. „Die türkische Seite beabsichtigt, diese Zusammenarbeit in naher Zukunft fortzusetzen.“
Auf dieser Grundlage bekräftigten im Sitzungsprotokoll der zwischenstaatlichen russisch-türkischen Kommission für Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit am 27. Juni beide Länder ihr Interesse an einer Verlängerung der Verträge über die Lieferung und den Export von Erdgas zwischen BOTAS und Gazprom Export zu Bedingungen, die für beide Unternehmen vorteilhaft sind.
In diesem Jahr laufen die aktuellen Verträge über die Lieferung von 16 Milliarden Kubikmetern Gas im Jahr über die Schwarzmeergasleitungen Blue Stream und 5,75 Milliarden Kubikmeter Gas über Turkstream aus. Außerdem enden zur kommenden Jahreswende Verträge mit einigen privaten Importeuren.
Mehr Turkstream-Gas kommt in Europa an
Im letzten Jahr importierte die Türkei über Blue Stream und Turkstream 2,6 Prozent mehr Gas und somit etwas mehr als 21 Milliarden Kubikmeter Gas. Da der Turkstream-Strang, der den türkischen Markt versorgen soll, nur zu rund einem Drittel ausgelastet ist, sind Kapazitäten frei, um mehr russisches Gas nach Europa durchzuleiten.
Bereits im ersten Quartal nutzte die Türkei diese Möglichkeit und leitete
nach Daten der europäischen Gastransportnetzbetreiber ENTSOG täglich steigende Gasmengen von Turkstream nach Bulgarien durch, die rechnerisch ein Jahresvolumen von rund 20 Milliarden Kubikmeter Gas ergeben. Da ein Strang von Turkstream auf eine Jahrestransportmenge von 15,75 Milliarden Kubikmeter ausgelegt ist, lässt das den Schluss zu, dass die Türkei hier einen Teil der weggefallenen Transitmengen der Ukraine kompensiert hat.
Das ungarische Öl- und Gasunternehmen MVM und die türkische BOTAŞ hätten vereinbart, dass das Transitvolumen von russischem Gas über Turkstream im Juli um 750.000 Kubikmeter pro Tag erhöht werden soll. Anschließend könne der Vertrag für August und September verlängert werden, sagte Ungarns Außenminister Péter Szijjártó in einem Video-Auftritt jüngst im Juni. Aktuell kommen in Ungarn über Turkstream und Bulgarien am Tag 21 Millionen Kubikmeter Gas (rund 7,7 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr) an. Ungarn lehnt wie die Slowakei die Ausstiegspläne der EU strikt ab.
Kapazitäten nutzen
Die Durchleitungskapazität der beiden Gasübergabestationen Strandzha 1-Malkoclar und Strandzha 2-Malkoclar an der bulgarisch-türkischen Grenze umfasst rund 26 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr. Um die komplette Transitmenge der Ukraine ausgleichen zu können, müsste die Transbalkan-Gasleitung, über die die Türkei bis zur Inbetriebnahme von Turkstream russisches Gas über die Ukraine importierte, für mehr Gasflüsse von Süd nach Nord ertüchtigt werden.
Die Transbalkan-Gasleitung gehört zum vertikalen Korridor, über den LNG-Lieferungen aus Griechenland nach Südosteuropa bis in die Moldau und Ukraine gelangen sollen. Wenn die Türkei daran Anschluss findet und ihn für ihren Turkish Blend aus russischem Gas, eigener Gasförderung, sämtlichen LNG- und Gasimporten nutzt, macht das den Ausschluss von russischen Gasimporten unmöglich.
Vor Inkrafttreten des Importverbots sieht der Legislativorschlag der Kommission außerdem vor, im Ausnahmefall eine Übergangsfrist einzuführen. Wie beim Öl ist das für Ungarn und die Slowakei ein Trittbrett, um an russischen Gasimporten festzuhalten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ein Schlupfloch und Schützenhilfe für Russland sind damit besiegelt.
LNG aus Russland nimmt Kurs auf die Türkei
Im besagten zwischenstaatlichen Protokoll bekundete Russland auch sein Interesse an stabilen LNG-Lieferungen und seine Bereitschaft an Investitionen zur gemeinsamen Entwicklung des türkischen Gasmarkts. „„Die Türkei akzeptiert LNG aus aller Welt und verfügt über Terminals. Unsere Spotlieferungen oder Mengen, die möglicherweise auf dem Weltmarkt verfügbar sind, können daher auch vom türkischen Markt abgenommen werden“, erklärte Nowak. Je nach den kommerziellen Bedingungen könnten das Spot- oder Langzeitverträge sein.
Sinkt die Abnahme von LNG aus Russland in westeuropäischen Häfen, dürfte die Türkei ein wichtige Anlaufstation sein, um es im Gemisch mit LNG aus Katar oder den USA über das türkische Gasnetz doch noch ins europäische Leitungsnetz zu bringen. Solange keine Drittstaatenregelung in Kraft ist, können russische Gasmoleküle sich mit anderen Quellen im türkischen Gasnetz munter mischen. Indischer Diesel ist schließlich auch ganz legal und braucht kein Herkunftszertifikat. Der Bosporus richtet offenbar zwar keinen Gashub ein, aber als Gaswaschmaschine lohnt sich das Geschäft bestimmt.
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