Eigentlich sollte der Tiefbahnhof von S21 im Dezember 2026 vollständig in Betrieb gehen. SWR-Recherchen zeigen: Der Termin wackelt wieder. Wahrscheinlich ist nun eine Teileröffnung.
Es wirkt fast schon wie ein Running-Gag. Oder abgewandelt: Und jährlich grüßt das Murmeltier. Im Mai wurde bei der Sondersitzung des Lenkungskreises noch versichert, dass nach wie vor eine Inbetriebnahme im Dezember 2026 höchste Priorität habe. Doch ob der Tiefbahnhof mit allen Gleisen wirklich kommendes Jahr in Betrieb gehen wird, stellt nach SWR-Informationen die frisch gegründete Stuttgart-21-Taskforce entschieden in Frage. Demnach werden aktuell drei Varianten diskutiert.
Taskforce soll Bahn bei S21-Bauarbeiten unterstützen
Bei der Sondersitzung des Lenkungskreises im Mai, also der Projektpartner von Stuttgart 21 (Bahn, Land, Stadt, Region), wurde vereinbart, eine Taskforce einzusetzen. Ziel ist laut einer gemeinsamen Erklärung, die negativen Folgen der S21-Bauarbeiten und der Inbetriebnahme für den Großraum Stuttgart erträglich zu halten. Diese Taskforce soll die Arbeit der Bahn unterstützen, die Bauherrin von Stuttgart 21 ist.
Hintergrund für den Schritt war, dass die Bahn zuletzt viele Baustellen nicht mehr rechtzeitig ankündigen und nur unzureichend managen konnte. So kam es es zu gravierenden Beeinträchtigungen insbesondere für Pendler und den Nahverkehr. Die ganze Region Stuttgart ist allein schon deshalb von S21 betroffen, da damit auch der Digitale Knoten Stuttgart (DKS) installiert wird, also das modernere Sicherungssystem European Train Control System (ETCS).
Szenario 1: Bisheriges Konzept für Inbetriebnahme – „blutende Fahrgäste“
Eigentlich wäre Stuttgart 21 ja 2019 in Betrieb gegangen, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Doch es gab immer wieder Verschiebungen. Vor einem Jahr wurde dann bekannt: Auch 2025 ist nicht mehr zu schaffen. Man verschob die Inbetriebnahme auf Dezember 2026. Bis dahin sollen Schritt für Schritt einzelne Elemente des neuen Tiefbahnhofs und des Digitalen Knotens Stuttgart in Betrieb genommen werden. Nur: Die Baustellen in den kommenden anderthalb Jahren nehmen überhand. Von einem regulären Fahrplan in den kommenden Monaten kann keine Rede mehr sein.
Über chaotische Zustände bei der Baustellenplanung der Bahn in den vergangenen Monaten hat SWR aktuell hier berichtet:
Seit ein paar Monaten ist klar: 2026 wird besonders schlimm für die Fahrgäste. Besonders große Sorgen macht den Planern laut Insidern der Umbau des Bahnhofs Bad Cannstatt. Dort müssen die Gleise von der alten Rosensteinbrücke auf die neue Neckarbrücke umgelegt werden. Ab diesem Zeitpunkt gibt es dann kein Zurück mehr, dann muss alles funktionieren. Darüber hinaus muss für die Inbetriebnahme des neuen Stellwerks der Abschnitt Bad Cannstatt – Plochingen für mehrere Wochen gesperrt werden. Das würde bedeuten: ICE-Züge könnten auch nicht mehr auf Esslingen ausweichen und müssten großräumig, teilweise über Würzburg, umgeleitet werden.
Die Fahrgäste würden bluten.
S-21-Projektbeteiligte im Gespräch mit dem SWR
Von der Bahn heißt es schriftlich auf SWR-Anfrage in Bezug auf die Absprachen der S21-Taskforce: „Die für Dezember 2026 geplante Eröffnung des Durchgangsbahnhofs hat dabei weiterhin oberste Priorität.“ Unter den Projektpartner indes heißt es: „Aber die Fahrgäste würden bluten.“ Das Bild des blutenden Fahrgasts macht zurzeit überall die Runde. Jeder, der am Projekt beteiligt ist, kennt es. Gemeint ist: Das bisherige Konzept für die Inbetriebnahme ist den Fahrgästen nicht mehr zuzumuten. Sowohl aus Kreisen der Bahn als auch aus Kreisen des Verkehrsministeriums BW hat der SWR erfahren: Diese Art der Inbetriebnahme ist schon vom Tisch und wurde als nicht umsetzbar abgetan. Jetzt muss es nur noch verkündet werden.
Szenario 2: Schrittweise – Fahrgäste leiden weniger, aber länger
Dieses Szenario ist nicht einmal neu. Denn eine schrittweise Inbetriebnahme wurde schon vor einem Jahr diskutiert. Das würde bedeuten, dass zum Beispiel die ICE-Züge von Mannheim und Ulm kommend schon durch den neuen Tiefbahnhof fahren. Dadurch wäre ein Großteil des Fernverkehrs an den neuen Knoten angeschlossen. Der Rest, primär der Nahverkehr, würde vorerst weiter in den alten Kopfbahnhof fahren, bis Schritt für Schritt die weitere Infrastruktur auf den Tiefbahnhof umgestellt wird. Die Fahrgäste müssten dadurch nicht so sehr leiden, sich dafür aber noch länger mit Baustellen und Ersatzverkehr abfinden.
Busse für den Schienenersatzverkehr für die gesperrte Bahnstrecke Stuttgart – Waiblingen stehen vor dem Bahnhof in Stuttgart: Wenn der Tiefbahnhof Ende 2026 nur teilweise eröffnet wird, gibt es solche Beeinträchtigungen für Fahrgäste weniger – dafür aber für längere Zeit.
Die Bahn würde Zeit gewinnen für die Baustellen. Die großen Sperrungen zwischen Bad Cannstatt und Plochingen könnte ins Jahr 2027 aufgeschoben werden. Man hätte dann außerdem schon den Tiefbahnhof und die Neubaustrecke nach Ulm, um großräumige Umleitungen wie über Würzburg zu vermeiden. Nach SWR-Informationen sind sich eigentlich alle Projektpartner einig: Dieses Konzept wird präferiert und soll bei der nächsten Sonderlenkungskreissitzung (wohl am 18. Juli) präsentiert werden. Auch Verbände, wie der BUND, VCD und der LNV haben sich bereits für diese Variante öffentlich ausgesprochen.
Die Frage ist dann nur: Welche Infrastruktur wird in welcher Reihenfolge Stück für Stück in Betrieb genommen? Wann wird die S-Bahn mit digitaler Zugtechnik über die neue Haltestelle Rosenstein fahren? Wird die S-Bahn höher priorisiert als der Nahverkehr? Was bedeutet das für die Kappung und Unterbrechung der Gäubahn? In diesen Punkten befinden sich nach SWR-Informationen die Projektpartner zueinander in einer Konkurrenzsituation. Denn der Verband Region Stuttgart, der für den S-Bahn-Verkehr zuständig ist, sieht eine andere Priorisierung für sinnvoll als ein Verkehrsministerium, dass für die Züge des Nahverkehrs kämpft.
Variante 3: Komplette Verschiebung der Eröffnung
Diese Variante wird wohl lediglich aufgebracht, um sie direkt wieder zu verwerfen. Aktuell will sich niemand die Blöße geben, erneut eine komplette Verschiebung der Inbetriebnahme zu verkünden. Daher wird sie nach SWR-Recherchen aktuell auch nicht ernsthaft diskutiert. Dennoch häufen sich Anzeichen, dass die von der Bahn vorgesehenen Testphasen für die Inbetriebnahme des Digitalen Knotens massiv zusammengeschrumpft sind. So heißt es von einem Insider, dass es kaum Puffer gibt, wenn es bei der Inbetriebnahme des neuen Sicherungssystem European Train Control System (ETCS) zu Problemen kommt.
Wenn bei den Tests der S-Bahn mit dem neuen System ETCS ein Problem auftritt, haben wir keine Zeit mehr bis zur Inbetriebnahme, diese Probleme zu lösen.
Insider im Gespräch mit dem SWR
Dass die Deutsche Bahn womöglich in einigen Monaten noch feststellt, dass selbst eine teilweise Inbetriebnahme im kommenden Jahr nicht möglich ist, halten Experten daher nicht für ausgeschlossen. „Und wenn dann die digitale Technik das Problem ist, wird die Bahn erst wissen, wenn die Testphasen im Stuttgarter Knoten richtig angelaufen sind“, erklärt ein Insider.
Erneute Probleme bei Inbetriebnahme: Anzeichen häufen sich
Dass eine vollständige Inbetriebnahme von Stuttgart 21 kommendes Jahr (von der Anbindung der Gäubahn und der Fertigstellung des Bonatzbaus mal abgesehen) nicht mehr sicher ist, deutet sich bereits seit einigen Monaten ab. Ob Bahn-Infrastrukturchef Bertold Huber oder der S21-Projektleiter Olaf Drescher: Auf die Frage, ob die Inbetriebnahme pünktlich klappen wird, antworten beide seit Monaten: „Im Jahr 2026 werden hier Züge durch den Tiefbahnhof fahren.“ Aber ob das fahrplanmäßige Züge, Testzüge oder nur ein Teil der geplanten Züge sind, erläutern sie nicht näher.
Auch der Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel (Grüne) aus Nürtingen (Kreis Esslingen) erklärte erst vor wenigen Wochen, dass wieder die Inbetriebnahme in Frage gestellt wird. „Alles scheint möglich, insbesondere der verpönte Kombibetrieb aus Kopf- und Tiefbahnhof.“ Die Deutsche Bahn müsse daher schnell ein ehrliches, realistisches Konzept für die gegebenenfalls schrittweise Inbetriebnahme vorlegen.
Sendung am Di., 1.7.2025 14:00 Uhr, SWR4 am Nachmittag, SWR4
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