Bröckelnde Brücken

„Das wird uns noch zehn, zwanzig Jahre beschäftigen“

Mi 02.07.25 | 14:53 Uhr | Von André Katschall

Rico Thumeyer sucht mit dem Hammer nach Hohlstellen und anderen Schäden, die im Beton entstanden sein könnten. (Quelle: rbb24/Sebastian Schöbel)Bild: rbb24/Sebastian Schöbel

Nach dem Einsturz der Carolabrücke in Dresden im September 2024 stehen viele Spannbetonbauwerke unter genauer Beobachtung. Experten rechnen mit einer großen Sanierungswelle – so wie in Berlin. Von Andre Katschall

Rico Thumeyer steht auf einer Hebebühne und klopft von unten gegen das Bauwerk 3447011, eine Brücke über die Bundesstraße B1 im Osten Berlins. Den Namen – Märkische-Allee-Brücke – muss er nachschlagen. Es sind einfach zu viele Brücken, deren Zustand er jede Woche überprüfen muss. Auf seinem Protokoll ist die jeweilige Seriennummer vermerkt.

Rico Thumeyer sucht mit dem Hammer nach Hohlstellen und anderen Schäden, die im Beton entstanden sein könnten. (Quelle: rbb24/Sebastian Schöbel)Rico Thumeyer sucht mit dem Hammer nach Hohlstellen und anderen Schäden, die im Beton entstanden sein könnten. | Bild: rbb24/Sebastian Schöbel

„Klonk, klonk“, macht es immer wieder. Sollten sich Hohlräume im Innern gebildet haben, würde es anders klingen – eben „hohl“, wie Thumeyer es beschreibt. Doch an dieser Brücke scheint alles in Ordnung. Für viele Autofahrer in Berlin eine gute Nachricht. Kaum auszudenken, wenn jetzt auch noch hier gesperrt werden müsste, nach all den anderen Brücken der vergangenen Zeit.

Neben dem Hammer vertraut Thumeyer auf seine Augen. Bei der Sichtkontrolle findet er aber nur kleinste Risse im Beton: 0,1 Millimeter breit. Kein Grund zur Beunruhigung. „Bei 0,2 bis 0,4 Millimeter wird es interessant“, sagt er. Die Untersuchung erfolgt „handnah“, also nicht einmal eine Armlänge vom Beton entfernt. Stundenlang begutachtet er das Bauwerk gemeinsam mit einem Kollegen.


Deutschlands Brücken bröckeln

Das Drama um die Brücken der Hauptstadt begann 2018. Thumeyer hatte bei einer Routineuntersuchung einen meterlangen Riss im Spannbeton der Elsenbrücke festgestellt. Sofort wurde die Spreeüberquerung halbseitig gesperrt, Staus waren die Folge, ein Neubau soll in drei Jahren fertig sein.

An der Elsenbrücke kann man sehen, vor welche Herausforderung Brücken in ganz Deutschland das Land in den kommenden Jahren stellen werden: fertiggestellt 1968 in der DDR, hergestellt aus Spannbeton. Das Material gilt inzwischen als besonders korrosionsanfällig, insbesondere der Stahl aus dem Werk Hennigsdorf im heutigen Brandenburg.

Doch es sind nicht nur alte DDR-Brücken, die bröseln. Auch Westbauwerke aus Spannbeton werden gesperrt. In Berlin-Charlottenburg traf es Mitte März die Ringbahnbrücke, Baujahr 1963. Ungünstigerweise ist das Bauwerk ein Abschnitt der A100. Risse im Beton, Vollsperrung, Abriss – eine benachbarte Brücke auf der gleichen Autobahn kam in dem Zuge gleich mit weg.

Kurz darauf die nächste Notbremsung: die Brücke an der Wuhlheide, eine Verkehrsader im Ostberliner Bezirk Trepow-Köpenick. Ebenfalls Spannbeton, aber wesentlich jünger. Erst 1989 fertig gestellt und nun abgerissen. Ob irgendwann ein Ersatzneubau kommt, ist noch nicht klar.


Verkehr ist das eigentliche Problem

Für Christian Müller, den Vorstandsvorsitzenden des Architekten- und Ingenieurvereins Berlin-Brandenburg (AIV), ist das alles nicht sonderlich überraschend. „Die Verkehrsverwaltung weiß seit zehn, zwanzig Jahren, dass da ein Instandhaltungsrückstand ist“, sagt er.

In den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren sei Spannbeton meist das Mittel der Wahl beim Brückenbau gewesen. Doch das Material habe seine Tücken, lasse sich zudem oft schlecht überprüfen, weil entscheidende Bauteile komplett einbetoniert sind. Doch das eigentliche Problem sei nicht der Beton, sondern der Verkehr selbst. „Das Verkehrsaufkommen ist so hoch, dass der Verschleiß enorm angestiegen ist“, sagt Müller.

Kleine Risse werden von Rico Thumeyer mit einem Lineal ausgemessen, mit wasserfester Kreide markiert und fotodokumentiert. (Quelle: rbb24/Sebastian Schöbel)Kleine Risse werden mit einem Lineal ausgemessen, mit wasserfester Kreide markiert und fotodokumentiert. | Bild: rbb24/Sebastian Schöbel


Jahrelange Sanierungswelle steht bevor

So sieht das auch Helmut Schmeitzner, Fachleiter des Bereichs Bauwesen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Viele Brücken gingen vorzeitig kaputt, in ganz Deutschland. „Man geht schon immer von 80 bis 100 Jahren Betriebsdauer aus“, so Schmeitzner. Es gebe durchaus noch Eisenbahnbrücken aus der Kaiserzeit, die hielten, was bei Erbauung versprochen wurde. Der Unterschied zu Straßenbrücken: „Da sind die Belastungen aber gleich geblieben.“

Schmeitzner benutzt gern eine Beispielrechnung, um das Problem zu verdeutlichen: „Ein Lkw, der 30 Tonnen wiegt, belastet eine Brücke circa tausend mal so stark wie eine Anzahl von Pkw, die insgesamt die gleiche Masse auf die Waage bringen.“ Und es würden nun sehr viel mehr Lkw fahren als noch in den 1970er- und 1980er-Jahren angenommen.

Der Hochschullehrer prognostiziert, dass eine jahrelange Sanierungswelle durch ganz Deutschland rollen wird, inklusive kurzfristigen Abrissen, Baustellen, Umleitungen – so wie gerade an mehreren Orten in Berlin. „Da müssen wir uns dran gewöhnen. Das wird öfter noch vorkommen. Das wird uns noch zehn, zwanzig Jahre beschäftigen“, so Schmeitzner.

„Zehn, zwanzig Jahre sind vollkommen realistisch“, meint auch AIV-Chef Müller. Und fügt halb scherzhaft hinzu: „Straßen- und Brückenbau haben hervorragende Jahre vor sich.“


Regelmäßige Kontrollen notwendig

So lange dürften auch Gutachter jede Menge zu tun haben. Eigentlich sollen Brücken alle sechs Jahre einer Hauptprüfung unterzogen werden, alle drei Jahre einer einfachen. Das gilt aber nicht für Spannbetonbauten, die ohnehin schon kleinere Risse haben.

Gutachter Thumeyer sagt über die Märkische-Allee-Brücke: „Wir kennen die schon ganz gut. Ich bin jetzt das fünfte Mal hier.“ Der Grund sind die kleinen Risse und die besondere Vorsicht, die bei Spannbetonbrücken gilt. Das Bauwerk 3447011 wird inzwischen jedes Jahr geprüft.

 

Mit Informationen von Sebastian Schöbel, rbb und Laurence Thio, rbb

Beitrag von André Katschall