Marmor – der Stoff, aus dem Paläste gemacht sind, Kirchen und Moscheen. Michelangelos Statuen und die Träume von Ovids sagenhaftem Pygmalion, der sich in seine von ihm geschaffene Statue verliebt. Ein wahrlich metaphorischer Stoff und der erste von dreien, denen die Schriftstellerin Judith Schalansky ihre Frankfurter Poetikvorlesung mit dem Titel „Marmor, Quecksilber, Nebel – Woraus die Welt gemacht ist“ widmet.
Dabei mag Schalansky Marmor nicht einmal: dieses „aalglatte Material mit der abgeschmackten Aura von Prunk und Parvenüs“. Doch es ereilt sie wie ein Blitz, wie „Verliebtheiten“. Im Urlaub, an Bord einer Fähre – wie könnte es bei Schalansky anders sein – auf der Reise von der Insel Thasos zum griechischen Festland. „Seine Erscheinungen“, wie Schalansky sagt, „kann man sich nicht aussuchen – jäh, unversehens, hinterrücks und beladen mit Bedeutung stehen sie vor einem und versperren einem den Weg.“ Wie versteinert stehe man da und halte den Atem an, „hellwach, andächtig und empört“.
Ließe sich so die ganze Weltgeschichte erzählen?
Ließe sich an ihm, anhand eines einzigen Materials, nicht die gesamte Weltgeschichte erzählen, fragt sich Schalansky mit Blick auf den gewaltigen Quader, der – mit fast 27.000 Kilogramm so schwer wie mehrere Elefanten oder „ein halber Pottwal“– auf der Ladefläche eines Lkw seine Reise in die Welt antritt, eine Reise ohne Wiederkehr.
Und so beginnt sie am Dienstagabend zu erzählen, vom Raubbau und dem Ausverkauf der Natur, über die antiken Marmorplastiken und Ovids Pygmalion, dem „Incel avant la lettre“, dem Pelicot-Prozess und der Unterwerfung der Frau, bis zu Christa Winsloe, der „Bildhauerin der Tiere“, und dem Begehren der eigenen Bücher – Poetikvorlesungen sind ein „Höllengenre“, so hat es Judith Schalansky schon vor einigen Tagen formuliert, wahrlich „ein Trip ins Eingemachte“.
Die Marmorsteinbrüche im italienischen Carrara.Bertram Kober
Schalansky, die in ihrem vielfach ausgezeichneten Werken, darunter „Der Hals der Giraffe“, „Der Atlas der abgelegenen Inseln“ und das „Verzeichnis einiger Verluste“, dem Verhältnis von Mensch und Natur, Wissenschaft und Poetik nachspürt, reiht sich mit ihren Vorlesungen ein in einen Reigen von Autoren, die, angeführt von Ingeborg Bachmann, seit 65 Jahren – wenn auch mit kurzen Unterbrechungen – im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen über Literatur und ihre Bedingungen nachdenken, zuletzt Judith Hermann, Clemens Setz und Aris Fioretos.
Was unterscheidet die schweißtreibende Arbeit des Bildhauers von der der Schriftstellerin, fragt Schalansky. Wie die Bildhauerei kenne auch die Literatur nur zwei Herstellungsverfahren: eines, bei dem, wie bei der Arbeit mit Lehm oder Ton, hinzugefügt und angehäuft, und eines, bei dem mühsam und gegen Widerstand an einem Block herumgemeißelt werde, „bis kaum etwas übrig bleibt“.
Judith Schalanskys Arbeitsstätte: Ein Blick in die Leselandschaft der Staatsbibliothek.Picture Alliance
Doch anders als der Marmor müsse ein künstlerischer Text erst hervorgebracht werden; es gilt einen Corpus zu schaffen, bevor man auf ihn einhämmern kann. Doch wie kommt man an einen Block? Schalansky birgt ihren Marmor wie immer aus dem Material, das sie aus „den Untiefen der Bibliotheksmagazine“ zutage fördert. Für die Autorin ist das Forschen und Sammeln Ausgangspunkt ihrer Arbeit und zugleich anthropologische Konstante: „Man findet irgendetwas und schleppt es in seinen Bau.“
Eine Werbebroschüre des Deutschen Marmorverbandes aus dem Jahre 1954 etwa oder die Gedanken des italienischen Schriftstellers Italo Calvino: „Meine Tätigkeit hat vorwiegend darin bestanden, Gewicht wegzunehmen“, zitiert Schalansky aus der Poetikvorlesung, die Calvino 1985 in Harvard halten sollte, wozu es aber nie kam, da ihn kurz vor seiner Abreise der Schlag traf. „Mich beschleicht der Verdacht, dass die meine vorrangig darin besteht, Gewicht aufzutürmen und die Schwere der Sedimente auf den Stoff einwirken zu lassen“, sagt Schalansky.
Die Bibliothek wird für sie zum Sinnbild
Sie beschreibt ihre Arbeit als einen Prozess der fortwährenden Verdichtung, „in dem alles Erklären und Erzählen immer mehr amalgamiert“, sodass es gänzlich ineinander aufgeht. „Eine Kreislaufwirtschaft, in der Sekundärliteratur wieder in Primärliteratur verwandelt wird.“ Dass die Kapazitäten des Magazins der Berliner Staatsbibliothek zwar gigantisch, doch in Zeiten digitaler, allumfassender Archive auch endlich sind, hat auf die Autorin, wie sie sagt, eine beruhigende Wirkung. Die geschichtsträchtige Bibliothek, erbaut in den Jahren von 1967 bis 1978 auf einer Brache zwischen dem Landwehrkanal und dem südlichen Tiergarten, wird für Schalansky zum Sinnbild ihres Arbeitsprozesses.
Kein Bau bilde das unergründliche, komplexe Eigenleben des Schreibens so treffend ab wie der Entwurf Hans Scharouns. Unübersehbar sind für sie die maritimen Reminiszenzen: Decks, Relinge, Bullaugen, ein Leuchtturm – durch die Augen von Schalansky wird die Bibliothek zum Schiff auf den unendlichen Möglichkeiten des Schreibens: „Es gibt Flauten, es gibt Brisen und sonst nichts als die hohe See.“