Ein 72-jähriger Mann wird mit starker Hypotension, Schwindel und Muskelschwäche ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz Flüssigkeitsgabe und Absetzen seiner Antihyertensiva bleibt die orthostatische Dysregulation bestehen. Eine genauere Anamnese zeigt, dass der Patient eigenmächtig seine Medikamente abgesetzt hat.
Der Fallbericht der Internistin Dr. Serena Dienes von der Universität Toronto zeigt die Herausforderungen der medizinischen Betreuung bei Multimorbidität und Polymedikation [1].
Der Patient und seine Vorgeschichte
Der Patient wird im April 2024 per Rettungswagen mit seit 2 Wochen bestehender Hypotension, Fatigue, Muskelschwäche und posturalem Schwindel in die Notaufnahme eines Krankenhauses in Toronto gebracht. Neurologische Defizite, Fieber, Nachtschweiß, gastrointestinale Beschwerden und Atemnot verneint er. Aufgrund von Appetitlosigkeit und Kraftmangel nimmt er zuletzt nur wenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich. Ein selbst gemessener Blutdruck von 68/46 mmHg habe ihn veranlasst, den Notruf zu wählen.
Zu seinen bekannten Vorerkrankungen gehören eine HIV-Infektion seit dem Jahr 2018, eine COPD seit dem Jahr 2020, eine behandelte arterielle Hypertonie, Harnverhalt, rezidivierende venöse Thromboembolien und eine periphere Neuropathie. Zudem hatte er vor Kurzem einen Schlaganfall erlitten. Seine Vorgeschichte zeigt, dass er seit dem Jahr 2020 Fluticason zur COPD-Behandlung erhält und seither wiederholt Episoden von Fatigue, posturalem Schwindel und Muskelschwäche hat.
Nach seinem Schlaganfall im Dezember 2023 wird seine antihypertensive Therapie von einer Monotherapie mit Perindopril auf eine Tripeltherapie mit Ramipril, Amlodipin und Chlorthalidon umgestellt. Zusätzlich wird Terazosin zur Behandlung des Harnverhalts verschrieben. Nach dieser Umstellung verschlechtern sich seine Symptome, ohne dass neurologische Defizite auftreten.
Körperliche und apparative Untersuchungen
Bei der Aufnahme liegt sein Blutdruck bei 80/51 mmHg. Herzfrequenz, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und Körpertemperatur sind normal. Eine Infusion von 500 ml Kochsalzlösung erhöht den Blutdruck vorübergehend auf 112/61 mmHg.
Eine körperliche Untersuchung zeigt zentrale Adipositas bei insgesamt kachektischer Konstitution, Pergamenthaut, multiple Blutungsstellen und eine dorsozervikale Beule.
Routine-Bluttests sind unauffällig, aber die CD4+-Zahlen sind mit 0,17 × 10⁹/L im Vergleich zu seiner Baseline von 0,40 × 10⁹/L erhöht. Zudem lassen sich 99 HIV-RNA-Kopien pro Milliliter nachweisen, während frühere Werte unter der Nachweisgrenze lagen.
Diagnostik und Therapie
Da eine Hypovolämie und eine mögliche Übertherapie der arteriellen Hypertonie vermutet werden, setzt das Ärzteteam Ramipril, Amlodipin, Chlorthalidon und Terazosin ab. Dies führt zu einer kurzfristigen Besserung. Bei der erneuten Gabe einer niedrigen Dosis Ramipril entwickelt der Patient eine ausgeprägte orthostatische Dysregulation mit Blutdruckwerten von 145/79 mmHg im Liegen und 73/41 mmHg nach einer Minute Stehen.
Weitere diagnostische Tests schließen Vitamin-B12- und Thyrotropin-Mangel als Ursache aus. Da keine infektiösen oder metabolischen Gründe für die Hypotonie vorliegen, erfolgt eine Messung der morgendlichen Kortisol- und Kortikotropinwerte. Die Kortisolwerte sind mit weniger als 28 mmol/l auffallend niedrig, während Kortikotropin mit 4,1 pmol/l normal ist. Dies führt zur Verdachtsdiagnose einer Nebenniereninsuffizienz. Eine CT-Untersuchung der Nebennieren bestätigt diese Diagnose.
Im Gespräch mit dem Patienten stellt sich heraus, dass er vor 2 Wochen eigenmächtig sämtliche Medikamente abgesetzt hat. Erst durch diese Information erkennt das Ärzteteam, dass das abrupte Absetzen der Glukokortikoide zur Demaskierung einer Nebenniereninsuffizienz geführt hat. Diese Insuffizienz ist vermutlich eine Folge der Wechselwirkungen zwischen dem in seiner antiretroviralen Therapie (ART) enthaltenen Cobicistat und dem inhalierten Fluticason aus seiner COPD-Behandlung.
Die anschließende Therapie mit oralem Hydrokortison (20 mg morgens, 10 mg abends) und Fludrocortison (0,05 mg täglich), das Absetzen der Hypertoniemedikation und eine Anpassung der COPD-Behandlung führen zu einer raschen Besserung der Symptome. Nach seiner Entlassung wird auch die ART angepasst.
Diskussion
Cobicistat wurde 2012 als Alternative zu Ritonavir eingeführt. Sein größter Vorteil besteht im engeren Cytochrom-P450-Isoenzym-Interaktionsprofil. Aufgrund seiner inhibierenden Eigenschaften auf CYP3A4 und das p-Glykoprotein ist dennoch ein breites Spektrum an Medikamenteninteraktion möglich. So wird Fluticason von hepatischen CYP3A4 metabolisiert.
Obwohl Fluticason im vorliegenden Fall inhaliert worden ist, kam es durch die starke CYP3A4-Inhibition durch Cobicistat wahrscheinlich zu einer systemischen Fluticasonexposition. Der resultierende Überschuss an Steroidhormonen zeigte sich teils in der zentralen Adipositas des Patienten sowie an der dorsozervikalen Beule (Stiernacken). Allerdings treten diese Symptome auch bei HIV-assoziierter Lipodystrophie auf.
Der einzige klinische Befund, der eine sichere Differenzierung zwischen steroidinduzierter Nebenniereninsuffizienz und HIV-assoziierter Lipodystrophie ermöglichte, war daher die orthostatische Dysregulation.
„In unserem Fall war eine Deeskalation der COPD-Therapie [als Teil der Problemlösung] machbar und sinnvoll“, schreiben Autoren. In anderen Fällen müsse hingegen das Fluticason durch Beclomethason ersetzt werden, das als eins der wenigen Kortikosteroide nicht über CYP3A4 metabolisiert wird.
Jedenfalls zeige demonstriere der vorliegende Bericht, dass „die Kontrolle möglicher Medikamenteninteraktionen“ sowie das Vermeiden „[kognitiver] Übermüdung“ für Ärztinnen und Ärzte in Zeiten zunehmender Polymedikation von wesentlicher Bedeutung sei.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.