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Stand: 03.07.2025 14:37 Uhr

Die rechtsradikale ID-Fraktion im EU-Parlament soll laut einem internen Prüfbericht des Parlaments Millionen illegal ausgegeben haben. So sollen unter anderem unzulässige Spenden verteilt worden sein – mit einer erfundenen Rechtsgrundlage.

Von Heiner Hoffmann, Pune Djalilevand, Anne Grandjean und Viviane Menges, RBB

Es könnte sich um einen der größten Finanzskandale im Europa-Parlament handeln: Auf 29 Seiten listet dessen Verwaltung auf, wie die rechtsradikale ID-Fraktion ihr vom Parlament anvertraute Gelder in Höhe von 4,3 Millionen Euro rechtswidrig ausgegeben haben soll.

Einem internationalen Rechercheteam mit dem ARD-Politikmagazin Kontraste sowie den Zeitungen Die Zeit, Le Monde und Falter liegt das Dokument vor. In der Fraktion „Identität und Demokratie“ hatten sich unter anderem die österreichische FPÖ, der französische Rassemblement National und die deutsche AfD zusammengeschlossen. Im Sommer 2024 löste sich die Fraktion auf.

Unzulässige Spenden?

In der Legislaturperiode von 2019 bis 2024 spendete die Fraktion mehr als 700.000 Euro an zahlreiche Organisationen. Eine der Spenden ging an die flämisch-nationale Studentenverbindung KVHV, die mehr als 30.000 Euro erhielt. Fördermitglied ist ein damaliger belgischer ID-Abgeordneter. Auch der fundamentalchristliche deutsche Verein SOS Leben, der sich gegen Schwangerschaftsabbrüche engagiert, erhielt Geld aus Fraktionsmitteln.

Bei manchen dieser Vereine lässt sich nach Kontraste-Recherchen eine politische oder persönliche Nähe zur ID-Fraktion erkennen, so wird beispielsweise einer der Vereine von der Ehefrau eines französischen Politikers geleitet. Die Prüfer der EU-Parlamentsverwaltung sehen jedoch ein ganz anderes Problem: Spenden ohne dezidierten Bezug zur EU oder der Arbeit der Fraktion im Parlament sind laut den Parlamentsregeln grundsätzlich nicht zulässig. Die EU-Verwaltung fand bei 80 überprüften Zahlungen „kein einziges“ dieser Kriterien erfüllt.

„Erfundener Artikel 68“

Der frühere Generalsekretär der ID-Fraktion, Philip Claeys, weist die Vorwürfe auf Anfrage des Rechercheteams zurück: Er verweist unter anderem darauf, dass sowohl ein externer Wirtschaftsprüfer als auch das Europäische Parlament ihre Rechnungsabschlüsse jährlich abgesegnet hätten. Tatsächlich wurden die Finanzberichte der Fraktion von belgischen Wirtschaftsprüfern als korrekt bewertet. Die Fraktion hatte ihre Spenden darin auf Grundlage eines „Artikel 68“ verbucht.

Die Parlamentsverwaltung bezeichnet diesen Artikel in ihrem Untersuchungsbericht als „so called article 68“, denn ein solcher Artikel existiere im Regelwerk überhaupt nicht. Auf Kontraste-Anfrage wollte sich die belgische Wirtschaftsprüferin nicht zu den Vorgängen äußern.

Rechtswidrige Auftragsvergaben?

Mehr als drei Millionen Euro soll die ID-Fraktion unzulässig für Aufträge ausgegeben haben. So rügen die Prüfer der EU-Verwaltung in ihrem Bericht etwa, dass Vorgaben für Vergaben und Ausschreibungen missachtet worden seien.

Einer der Fälle betrifft ein Unternehmen aus Fulda, das von einem Kommunalpolitiker der AfD geleitet wird und sich mit Marketing und Onlineauftritten befasst. Die Prüfer des EU-Parlaments werfen der ID-Fraktion vor, sie habe Aufträge in Höhe von insgesamt knapp 64.000 Euro an den Mann und seine Firma gestückelt. Die Fraktion habe zudem nicht nachweisen können, dass sie im Zuge der Auftragsvergabe überhaupt andere Angebote eingeholt habe – obwohl dies für Dienstleistungen dieser Größenordnung vorgeschrieben sei. Es gebe den „starken Anfangsverdacht“, dass der Auftrag von Anfang an für den Unternehmer und AfD-Lokalpolitiker gedacht war.

Die Gelder sollen für die Betreuung der Website eines nicht namentlich genannten Parlamentsmitglieds geflossen sein. Dabei handelt es sich nach Kontraste-Informationen um die AfD-Abgeordnete Christine Anderson aus Fulda. Auf Anfragen von Die Zeit und Kontraste an den Unternehmer und die Europaabgeordnete antwortet jeweils dieselbe Kölner Presserechtskanzlei. Diese teilt in beiden Fällen mit, die Budgetregeln seien eingehalten und die Honorare nicht gezielt gestückelt worden. Die Kanzlei erklärt zudem, dass nicht Frau Anderson diese Aufträge vergeben habe, sondern vielmehr die ID-Fraktion.

600.000 Euro für mutmaßlich überteuerte Werbung

Ein besonders heikler Fall führt nach Österreich. Das rechtsradikale Wochenblatt Zur Zeit erhielt laut Bericht in der letzten Wahlperiode rund 600.000 Euro aus Mitteln der ID-Fraktion für Werbung und Beilagen. Doch laut Prüfbericht fehlten Ausschreibungen, die Preise lagen zudem deutlich über marktüblichen Preisen. Die Prüfer sprechen von versteckter Finanzierung – rund 30 Prozent der Einnahmen der Zeitung sollen direkt aus der ID-Fraktion stammen. Der Bericht zieht ein klares Fazit: Ohne EU-Gelder hätte die Zeitung nicht überlebt. Es handele sich um eine illegale Subventionierung, so der Verdacht. 

Herausgeber ist Andreas Mölzer, ehemaliger Europaabgeordneter der FPÖ und langjähriger Vordenker der Partei. 2014 musste er nach einem NS-Vergleich zurücktreten. Der Verleger lässt über seinen Anwalt mitteilen, die Vorwürfe seien ihm nicht bekannt. Sämtlichen Zahlungen der ID-Fraktion hätten Leistungen gegenübergestanden. Auch er verweist darauf, dass die Finanzaufstellung der Fraktion von Wirtschaftsprüfern testiert worden sei.  

Drei Millionen Euro an Le-Pen-nahe Unternehmen

Den größten mutmaßlichen Schaden entdeckten die Prüfer bei Zahlungen an zwei französische Firmen. Mehr als drei Millionen Euro sollen regelwidrig nach Frankreich geflossen sein: Laut Prüfbericht erhielt der französische Dienstleister Unanime mehr als 1,4 Millionen Euro von der ID-Fraktion. Die Leistungen von Unanime seien überteuert gewesen, heißt es. Die Firma Unanime, die sich vergangenes Jahr in Europacomm umbenannte, gehörte Frédéric Chatillon, einem engen Vertrauten von Marine Le Pen. Chatillons Frau leitete das Unternehmen. Beide wurden 2020 im Zusammenhang mit einem Korruptionsfall rund um die Partei Rassemblement National verurteilt.

Die französische Firma E-Politic erhielt sogar rund 1,7 Millionen Euro. Hier sprechen die EU-Prüfer von „schwerwiegenden Compliance-Problemen“ beim Vergabeverfahren. Der Geschäftsführer von E-Politic war früher Vize-Chef der Parteijugend des Rassemblement National. Auch die „Grundsätze der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung“ seien verletzt worden, konstatiert der Bericht. Beide Unternehmen ließen eine Anfrage der Medien unbeantwortet.

CDU-Abgeordneter will Anzeige erstatten

Der deutsche CDU-Europaabgeordnete Niclas Herbst kommentiert den Bericht auf Kontraste-Anfrage wie folgt: „Wir wollen das Geld zurückhaben. Das ist Steuergeld, das soll für andere Dinge ausgegeben werden.“ Herbst, der Vorsitzender des EU-Haushaltskontrollausschusses ist, kündigte zudem an, bei der Europäischen Staatsanwaltschaft EPPO Strafanzeige zu stellen. Zudem solle die Antibetrugsbehörde OLAF eingeschaltet werden.

Man könne den Eindruck gewinnen, meint Herbst, dass es für „diese politische Richtung ein Sport ist, die Europäische Union zu betrügen“. Tatsächlich handelt es sich bei den Vorwürfen bislang jedoch nur um einen Verdacht, abschließend kann nur ein Gericht feststellen, ob die Mittelverwendung illegal war.

Der mutmaßliche Finanzskandal könnte indes noch deutlich größer werden. Kontraste hat Hinweise darauf, dass die Praxis der umstrittenen Spenden auch schon vor 2019 üblich war. Zudem könnte die Summe von 4,3 Millionen Euro noch steigen, denn die Prüfer des EU-Parlaments haben offenbar nicht sämtliche Zahlungen der ID-Fraktion erneut geprüft.

Mehr zu diesem und anderen Themen sehen Sie heute um 21:45 Uhr bei Kontraste im Ersten.