Berlin. Die Ukraine und Russland liefern sich einen tödlichen Wettlauf um Taktik und Technologie. Motorrädern und Drohnen folgen bald Roboter.
Die Russen waren die ersten, die die Dragoner-Taktik aufs Schlachtfeld brachten. Plötzlich tauchen die Angreifer auf Motorrädern auf, rasen in Kolonnen auf die ukrainischen Linien zu, versuchen, die Stellungen einzukreisen. „Mal sind ein Dutzend Motorräder im Einsatz, aber es waren auch schon mal hundert“, hat Major Wiktor Trehubow, Sprecher der großen ukrainischen Streitkräftegruppe Chortyzja, an der Ostfront, kürzlich berichtet.
In der Mitte und am Ende der Kolonne tragen die russischen Soldaten Systeme zur elektronischen Kampfführung, teils sind sie allein, teils zu zweit auf einer Maschine unterwegs. Monatelang experimentierten die Russen, inzwischen ist es eine Standardtaktik, in diesen Wochen nimmt die Zahl der Einsätze deutlich zu – offenbar als Teil der russischen Sommeroffensive.
Anfangs haben die Ukrainer den Kopf geschüttelt. Die Motorradfahrer sind zwar schnell und beweglich, aber ungeschützt – die Taktik führt zu teils schweren Verlusten der Angreifer, was die Russen in Kauf nehmen, solange wenigstens ein Teil der Soldaten die feindlichen Linien zu durchbricht. Aber jetzt übernehmen auch die ukrainischen Streitkräfte, bei aller Vorsicht, die neue Methode. Das 425. Skala-Sturmregiment hat als Erstes eine Motorrad-Kampfeinheit aufgestellt. Ein Soldat fährt, einer schießt. Für die ukrainischen Soldaten gilt der Auftrag: Schnell fahren, schnell zuschlagen, schnell verschwinden, bevor die Drohnen des Gegners kommen. „Blitzkrieg“, sagen Kommandeure.
Vor allem darum geht es: Der zunehmende Drohneneinsatz hatte zunächst bei den Russen für immer höhere Verluste an Panzern geführt, allein voriges Jahr sollen die Streitkräfte 3000 Panzer verloren haben. Inzwischen sind aber auf beiden Seiten auch 70 Prozent der gefallenen Soldaten Opfer von Drohnenattacken.
Soldaten einer ukrainischen Artillerie-Brigade feuern in Richtung russischer Stellungen an der Front in der Region Donetsk.
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Militärexperten: „Dragoner des 21. Jahrhunderts“
Die Motorräder helfen, unerkannt durch die Linien zu schlüpfen, den Nachschub zu stören, den Gegner abzulenken, in die Zange zu nehmen – oder Infanterie-Soldaten ganz nah an die Stellungen zu bringen. Militäranalysten nennen die Motorrad-Soldaten schon die „Dragoner des 21. Jahrhunderts“. Dragoner waren bis zum Ersten Weltkrieg Soldaten der Infanterie, die zu Pferd in die Schlacht zogen, aber teilweise zu Fuß weiterkämpften; heute gibt es sie in einigen Armeen noch in Traditionsregimentern.
Dass die Russen mit Motorrädern und vierrädrigen Quads auch einen Mangel an schwerem Gerät und Panzern kompensieren, ist offensichtlich. Doch Forscher des unabhängigen US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) sehen inzwischen einen belastbaren Trend auf beiden Seiten, reaktionsschnelle, flexible Taktiken in die Einheiten zu integrieren. Die russischen Streitkräfte würden sich zunehmend auf Motorräder stützen, nicht nur in diesem Sommer, erklären die Forscher: „Das russische Militär sammelt Erfahrungen in der modernen Bodenkriegsführung und möchte sie auch nach dem Krieg in der Ukraine fortführen.“
Auch nach dem Krieg: Schon deshalb schauen westliche Militärbeobachter mit großer Aufmerksamkeit auf solche Änderungen der Kriegsführung. In der Ukraine tobt ein tödlicher Wettkampf um taktische und technische Innovationen, dessen Ergebnisse auch in künftigen Konflikten eine Rolle spielen dürften. Das Anpassungstempo ist hoch. Die Herausforderung im Ukraine-Krieg beschreibt der Nato-Oberkommandierende für Transformation, Pierre Vandier, so: „Es ist eine Mischung aus dem Ersten Weltkrieg und dem Krieg der Zukunft.“ Das Motorrad liegt irgendwo dazwischen, während der Einsatz von Drohnen in die Zukunft weist. Technologisch ist die Glasfaserdrohne die bahnbrechende Neuerung – Fluggeräte, die über eine kilometerlange Glasfaserschnur vom Piloten gelenkt werden können.
Die Nato erforscht Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Die Ukraine bereitet den nächsten Sprung vor: den Einsatz von Tausenden Bodenrobotern, die Nachschub in die Stellungen bringen sollen, Minen legen oder als Granatwerfer arbeiten können. Taktisch ist die „Drohnensättigung“ eine bedrohliche Neuerung: Mit einem Massenangriff von Hunderten Drohnen versucht Russland, die ukrainische Luftabwehr zu überfordern. „Ein Warnschuss für die Zukunft des Krieges“, sagt der Sicherheitsforscher Benjamin Jensen.
Glasfaserdrohnen wie diese aus einer ukrainischen Produktionsstätte in der Region Charkiv haben den Krieg verändert. Als Reaktion auf den verstärkten Drohneneinsatz setzten als erstes die russischen Streitkräfte auf Motorrad-Soldaten.
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Als Außenminister Johann Wadephul (CDU) diese Woche in Kiew seinen ukrainischen Kollegen Andrij Sybiha besuchte, warnte der, die russischen Streitkräfte mit denen von 2022 gleichzusetzen. „Sie gewinnen an Erfahrung, sie setzen auf dem Schlachtfeld auch neue Technologien ein“, sagte Sybiha. Das sei eine Gefahr nicht nur für die Ukraine, sondern für die transatlantische Sicherheit.
So sieht es auch die Nato. Im Februar hat das Bündnis im polnischen Bydgoszcz ein neues Zentrum eröffnet, das die jüngsten Erfahrungen auf dem ukrainischen Schlachtfeld für die künftige Kriegsführung auswerten soll. Derartige Lehren seien für die Nato unabdingbar, um „konventionell und strategisch glaubwürdig“ zu bleiben, erklärt Nato-Admiral Vandier. „Wir befinden uns in einem Wettrennen“, sagt Vandier, „um uns anzupassen, uns zu verändern, zu erfinden, um schneller zu sein als der Gegner.“
Was genau die Erfordernisse sein würden, bleibt offen. Drohnen sind unbestreitbar wichtig, sie haben die Kriegsführung drastisch verändert. „Aber nur mit Drohnen lässt sich ein Krieg nicht gewinnen“, sagt ein führender Verteidigungspolitiker in Berlin. „Die benötigten Fähigkeiten werden sich sicher noch mehrmals ändern.“ Bislang gilt weiter: Kriege werden immer noch am Boden entschieden.
Auch der Einsatz der Motorräder wird in der Nato aufmerksam beobachtet, sicher nicht als „Gamechanger“, aber als ein Beispiel für kostengünstige Anpassungen an veränderte Bedingungen. Nach Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdienstes hat Russland für den Motorradeinsatz Ausbildungszentren entlang der gesamten Front aufgebaut, mehr als die Hälfte der Infanterie soll mit den Fahrzeugen ausgerüstet werden.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Längst ist die neue Taktik zum Propagandainstrument geworden: Auf Videos des russischen Verteidigungsministeriums ist zu Technoklängen zu sehen, wie jeweils zwei bis drei Soldaten auf den Zweirädern Angriffs- und Verteidigungstaktiken trainieren. Aber auch das ukrainische Sturmregiment zeigt in einem Video, unterlegt mit Rockmusik, wie die Biker-Soldaten für den Kampf trainieren. Eine weitere Gemeinsamkeit von Russen und Ukrainern: Ihre geländegängigen Enduro-Maschinen für die Fronteinsätze kommen überwiegend aus China.