Egal ob die Ohren schmerzen oder das Knie – die Patienten gehen immer erst zum Hausarzt. Von dieser sogenannten hausarztzentrierten Versorgung träumte Anfang des neuen Jahrtausends schon die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Die SPD-Politikerin wollte so die hohen Kosten der gesetzlichen Krankenkasse eindämmen. Doch der Widerstand war groß, viele Patienten hatten keine Lust, für viele Erkrankungen zwei Mal zum Arzt zu müssen. Das Hausarztmodell blieb freiwillig.

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Doch nun erlebt die Idee ein Comeback. Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD auf ein „verbindliches Primärarztsystem“ verständigt. Zum Facharzt sollen Patienten künftig nur noch gelangen, wenn ihr Hausarzt oder die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung den Bedarf feststellt.

Hausärzte als Lotsen

Dafür sollen die Bürger zuverlässig innerhalb eines angemessenen Zeitraums einen Facharzt-Termin bekommen. Schaffen die Praxis-Ärzte das nicht, sollen zur Not Krankenhäuser die Behandlung übernehmen. Ausnahmen soll es nur für chronisch erkrankte Patienten sowie in der Augenheilkunde und Gynäkologie geben.

Dadurch können enorme Kosten eingespart werden.

Nicola Buhlinger-Göpfarth, Präsidentin des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes

Viele Experten plädieren schon lange dafür, die Hausärzte zu Lotsen für das Gesundheitssystem zu machen, um das verbreitete Phänomen des Ärztehoppings einzudämmen. So sollen die Patienten künftig auch leichter einen Facharzttermin bekommen, weil überflüssige Mehrfachbehandlungen wegfallen. Sie entstehen unter anderem, wenn Patienten zunächst zum falschen Facharzt gehen.

Zukünftig müsse man mit immer weniger Ressourcen immer mehr und immer ältere Patientinnen und Patienten versorgen, sagt die Präsidentin des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes (HAEV), Nicola Buhlinger-Göpfarth, dem Tagesspiegel. Dafür müsse man „mehr Struktur in unser Gesundheitssystem bringen“.

Das in vielen europäischen Ländern längst etablierte Primärarztsystem ermögliche eine bessere Qualität bei weniger Ressourcenverschwendung.

Auch Jens Baas, der Chef der Techniker Krankenkasse, hält den Vorschlag für einen mutigen Schritt in die richtige Richtung. „Wir brauchen klar strukturierte Wege in die ärztliche Versorgung, damit Patientinnen und Patienten endlich schneller dorthin kommen, wo ihnen gut geholfen werden kann.“

Buhlinger-Göpfarth verweist darauf, dass gerade chronisch Kranke vom Hausarztmodell stark profitieren würden. Durch die enge und koordinierte Betreuung würden weniger unverträgliche Medikamente verschrieben, überflüssige Doppeluntersuchungen vermieden und Krankenhauseinweisungen reduziert. „Dadurch können enorme Kosten eingespart werden.“

Auch in Zukunft wird es möglich sein, direkt eine Facharztpraxis aufzusuchen. Das könnte dann aber mit einer Eigenbeteiligung oder einer längeren Wartezeit verbunden sein.

CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge

Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen (SVR) kam zum Ergebnis, dass die Teilnahme am Hausarztmodell wegen der besseren Betreuung mit einer um 9,1 Prozent geringeren Rate an Krankenhausaufenthalten verbunden ist. Wenn alle gesetzlich Versicherten in Deutschland so versorgt werden, rechnet der HAEV mit rund acht Millionen Krankenhaustagen weniger.

Ein neuer Flaschenhals?

Ähnlich wie Ulla Schmidt vor 20 Jahren muss auch Schwarz-Rot mit Widerstand rechnen. Der Spitzenverband der Fachärztinnen und Fachärzte warnt auf Anfrage vor einem neuen „Flaschenhals“ in der medizinischen Versorgung. Laut dem Verband behandeln Fachärzte jährlich 112 Millionen Arztfälle ohne Überweisung. „Müssten diese Patienten in jedem Fall zunächst eine Hausarztpraxis aufsuchen, bedeutete dies 2500 zusätzliche Fälle pro Jahr für jede Hausärztin und jeden Hausarzt.“

Beschränkung der telefonischen Krankschreibung

Auch bei der telefonischen Krankschreibung soll es eine Einschränkung geben. „Die telefonische Krankschreibung werden wir so verändern, dass Missbrauch zukünftig ausgeschlossen ist“, heißt es im Koalitionsvertrag. So soll die Online-Krankschreibung durch private Plattformen verboten werden.

Die Wirtschaft hatte sich zuletzt beschwert, dass deutsche Arbeitnehmer im internationalen Vergleich überdurchschnittlich oft krank sind.

Der Gesundheitsexperte der Linken, Ates Gürpinar, hält deshalb die hausarztzentrierte Versorgung zwar für richtig, sieht darin jedoch kein Sparmodell. Er fordert vielmehr „Investitionen in neue Versorgungsstrukturen“. Ansonsten werde das Primärarztmodell zusätzliches Behandlungsaufkommen und weitere Bürokratie in einem überforderten System schaffen.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, weist darauf hin, dass es heute bereits Regionen gebe, „in denen Primärpraxen keine Neupatienten mehr aufnehmen“. Er fürchtet zusätzliche Bürokratie und will nicht, dass Kranke, die die Vorschriften umgehen, „für ihre bedarfsgerechte Versorgung die Zeche privat zahlen müssten“.

CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge versucht zu beruhigen. Auch in Zukunft werde es möglich sein, direkt eine Facharztpraxis aufzusuchen, sagt er dem Tagesspiegel. „Das könnte dann aber mit einer Eigenbeteiligung oder einer längeren Wartezeit verbunden sein, falls man zuvor auf den Rat des Primärarztes verzichtet hat.“

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Die Steuerung hält er für nötig, um schnelle Facharzttermine für diejenigen Patienten freizuhalten, die sie am dringendsten bräuchten. Sorge sieht das Primärarztmodell dann auch als Reaktion auf das Verhalten der Patienten: „Zu oft werden eigenmächtig Facharzttermine gebucht, obwohl das medizinisch nicht immer notwendig ist.“