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Die Verwendung des Terminus „Faschismus“ im Zusammenhang mit dem heutigen russischen Staat und seinen Handlungen hat mindestens drei Dimensionen. Erstens ist er eine historische Analogie, um die öffentliche Interpretation aktueller Ereignisse im Lichte bekannter Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit zu lenken. Zweitens ist er eine ukrainische Chiffre, welche die heutige gelebte Erfahrung von Millionen Ukrainern zum Ausdruck bringt. Sie wird unter anderem mit dem Ziel kommuniziert, Mitgefühl für die Opfer russischen Massenterrors in der Ukraine (sowie teils auch innerhalb Russlands) zu erzeugen. Drittens ist „Faschismus“ ein akademischer Oberbegriff, der wissenschaftlicher Klassifizierung dient, Vergleiche über Zeit und Raum hinweg ermöglicht sowie Unterschiede beziehungsweise Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen Faschismus einerseits und heutigen Putinismus andererseits verdeutlicht.
Faschismus als historische Analogie
Die meisten öffentlichen Bezeichnungen von Putins Regime als faschistisch erfüllen die Funktion einer diachronen Analogie beziehungsweise metaphorischen Einordnung zum besseren Verständnis jüngster Entwicklungen in Russland und seinen besetzten Gebieten. Solche historische Gleichsetzung und verbale Visualisierung eines aktuellen Phänomens mit Ereignissen und Bildern aus der Vergangenheit hilft, entscheidende Charakteristika und Herausforderungen des heutigen Russlands zu erkennen. Die Zuschreibung von „Faschismus“ an Putins Regime dient dazu, der breiten Öffentlichkeit zu veranschaulichen, was in Russland und den russisch besetzten ukrainischen Gebieten geschieht.
Mit dem Begriff des Faschismus wird historisch vor allem das Regime Mussolinis (im Bild) in Italien sowie die Nazi-Diktatur in Deutschland assoziiert.GRANGER Historical Picture Archive/imago
Dieser Vergleich ist insofern gerechtfertigt, als es zahlreiche Parallelen zwischen der innen- und außenpolitischen Rhetorik und Vorgehensweise von Putins Russland einerseits und von Mussolinis Italien sowie Hitlers Deutschland andererseits gibt. Bis Mitte 2025 haben sich viele politische, soziale, ideologische und institutionelle Ähnlichkeiten angehäuft. Sie reichen von zunehmend diktatorischen und teilweise totalitären Merkmalen des russischen Regimes bis hin zu revanchistischen und zunehmend völkermörderischen Merkmalen im externen Verhalten des Kremls. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Verwendung des Faschismusbegriffs eine erhellende Funktion für politische Debatten in der Medienlandschaft, interessierten Zivilgesellschaft und politischen Bildung.
Faschismus als gelebte Erfahrung
Die Anwendung des Begriffs „Faschismus“ auf Putins Regime durch außenstehende Kommentatoren zielt darauf ab, einem Publikum außerhalb Russlands und der Ukraine einen Eindruck über aktuelle russische Innen- und Außenpolitik zu vermitteln. Dagegen ist die ukrainische Verwendung des Begriffs „Faschismus“ und Neologismus „Raschismus“ – eine Kombination aus „Russia“ und „Faschismus“ – in erster Linie ein expressiver Akt.
In der Ukraine drückt die Bezeichnung Russlands als faschistisch seit 2014 den kollektiven Schock, die tiefe Trauer und die fortgesetzte Verzweiflung angesichts des morbiden Zynismus des Kremls gegenüber einfachen Ukrainern aus – insbesondere in den letzten dreieinhalb Kriegsjahren.
Auch dient „Faschismus“ beziehungsweise „Raschismus“ der ukrainischen Regierung und Gesellschaft als Schlachtruf zur Mobilisierung in- und ausländischer Unterstützung für den Widerstand gegen die russische Aggression. Diese Begriffe sollen die Außenwelt auf die schwerwiegenden Auswirkungen des russischen Vernichtungskrieges für die Ukraine aufmerksam machen. Die Adjektive „faschistisch“ und „raschistisch“ weisen darauf hin, dass es bei der militärischen Expansion Russlands nicht nur um Eroberung ukrainischen Territoriums geht. Russlands revanchistisches Abenteuer zielt, insbesondere seit 2022, auf die Zerstörung der Ukraine als einen unabhängigen Nationalstaat und eine von Russland separate Kulturgemeinschaft.
Die Worte und Taten der russischen Regierung sind in dieser Hinsicht weitgehend deckungsgleich. Die Äußerungen von russischen Regierungsvertretern, Parlamentariern und Propagandisten weisen insbesondere seit dem 24. Februar 2022 darauf hin, dass die Absichten Russlands in Bezug auf die Ukraine über eine bloße Neuziehung von Staatsgrenzen, Wiederherstellung regionaler Hegemonie und Abwehr einer Verwestlichung Osteuropas hinausgehen. Doch schon seit 2014 ist Moskau damit beschäftigt, ukrainische Identität, Kultur und Nationalgefühle auf der Krim und im Donbass rücksichtslos zu unterdrücken.
Eine Gleichsetzung Russlands unter Putin mit dem NS-Regime würde zu weit gehen. Im Bild: Adolf Hitler und Heinrich Himmler, 1939Cinema Publishers Collection/imago
Es würde zwar zu weit gehen, die russische Ukrainophobie mit dem biologischen und eliminatorischen Antisemitismus der Nazis gleichzusetzen. Moskau will mit seinem irredentistischen Krieg (Anm.d.Red.: Gebiete zurückerlangen, die als historisch, ethnisch oder kulturell zum eigenen Staat gehörig betrachtet werden, obwohl sie aktuell zu einem anderen Staat gehören) „nur“ die ukrainische Nation als selbstbewusstes Gemeinwesen und unabhängige Zivilgesellschaft beseitigen. Der Kreml zielt nicht darauf, alle Ukrainer physisch zu vernichten, wie es die Nazis mit den Juden versuchten.
Dennoch geht die russische Agenda über „bloße“ Vertreibung, Schikanierung, Deportation, Umerziehung und Gehirnwäsche von Einwohnern der Ukraine hinaus. Sie umfasst auch die Enteignung, Terrorisierung, Inhaftierung, Folterung und Ermordung derjenigen Ukrainer (sowie einiger Russen), die sich der militärischen Expansion, politischen Terrorherrschaft und kulturellen Dominanz Russlands in der Ukraine mit Wort und/oder Tat widersetzen. Es verwundert daher kaum, dass viele Ukrainer sowie einige russische Beobachter das völkermörderische Verhalten Russlands spontan als „faschistisch“ bezeichnen.
Faschismus als wissenschaftliches Konzept
Eine wachsende Zahl prominenter Experten für Mittel- und Osteuropa bezeichnen Putins Russland heute als faschistisch. Im Gegensatz dazu vermeiden bislang viele vergleichend arbeitende Zeithistoriker und Politikwissenschaftler die Verwendung des Faschismusbegriffs zur Kategorisierung des Putinismus. Dies hat mit den eng gefassten Definitionen von generischem Faschismus zu tun, die viele dieser Akademiker verwenden. Demnach ist das entscheidende Merkmal, das Faschisten von anderen Rechtsradikalen unterscheidet, ihr Ziel einer politischen, sozialen, kulturellen und anthropologischen Neugeburt.
Faschisten beziehen sich oft auf ein angeblich Goldenes Zeitalter in der fernen Geschichte ihrer Nation und verwenden Ideen sowie Symbole aus dieser mythologisierten Vorzeit. Sie wollen jedoch keine vergangene Ära bewahren oder wiederherstellen, sondern eine neuartige nationale Gemeinschaft schaffen.
Faschisten sind zwar rechtsextrem, aber eher revolutionär als ultrakonservativ oder reaktionär. Heute wären viele Komparativisten mit einer Anwendung des Faschismusbegriffs in Bezug auf Putinismus vorsichtig, da dieser eine Wiederherstellung des russischen Reiches anstatt der Schaffung eines gänzlich neuen russischen Staates und Menschen anstrebt.
Eine Wohnung in einem mehrstöckigen Wohnhaus steht nach einem russischen Drohnenangriff in der ukrainischen Hauptstadt in Flammen.Stringer/AP
Die Ukraine als russisches Inland
Zwar hatte die Putin’sche Umwandlung der russischen Innen- und Außenpolitik in den letzten 25 Jahren eine klare Richtung. Sie bedeutete eine fortgesetzte Zunahme rhetorischer Aggression, interner Repression, externer Eskalation und allgemeiner Radikalisierung, welche nun in monatlichen russischen Weltkriegsdrohungen gipfelt. Für die meisten Komparativisten wären diese und ähnliche Veränderungen im letzten Vierteljahrhundert russischer Geschichte jedoch immer noch zu gering, um den Putinismus als Faschismus zu klassifizieren.
Allerdings könnte Russlands Politik in den besetzten ukrainischen Gebieten in einem direkteren Sinne als quasi-faschistisch eingestuft werden. Die rücksichtslose Russifizierungskampagne, die der russische Staat durch gezielten Terror, erzwungene Umerziehung und materielle Anreize in den besetzten Teilen der Ukraine durchführt, zielt darauf ab, eine tiefgreifende soziokulturelle Umwandlung dieser Gebiete zu erreichen. Zwar wird derlei irredentistische, kolonisatorische und homogenisierende Politik als solche in der vergleichenden Imperialismusforschung nicht als faschistisch bezeichnet. Die Instrumente, welche der Kreml zur Umsetzung seiner Ukrainepolitik einsetzt, und die angestrebten Ergebnisse ähneln jedoch teilweise denen faschistischer Revolutionen, wie sie von Mussolinis Italien und Hitlers Deutschland versucht wurden.
Moskau will die eroberten ukrainischen Kommunen grundlegend umgestalten und sie in Zellen eines kulturell und ideologisch standardisierten russischen Volkes (russkii narod) verwandeln. Russische imperiale Ultranationalisten betrachten große Teile der Ukraine als ursprünglich russisches Land und bezeichnen sie als „Neu-“ und „Kleinrussland“ (Noworossija, Malaja Rossija). Ukrainer – sofern der Begriff überhaupt akzeptiert wird – sind demnach lediglich eine subethnische Gruppe des russischen Großvolkes, die einen russischen Dialekt sprechen und eher über eine regionale Folklore als nationale Kultur verfügen.
Russische Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestages des Sieges über Nazideutschland in DonezkDmitry Yagodkin/imago
Die westrussischen Grenzbewohner wurden, so das russische Irredentismusnarrativ, von antirussischen Kräften in die Irre geführt, um eine künstliche Nation, „die Ukraine“, zu bilden. Landesfremde Akteure wie die katholische Kirche, das kaiserliche Deutschland, die Bolschewiken oder/und der Westen heute haben das gesamtrussische Volk gespalten. So wurden die „Großrussen“ (velikorossy) der Russischen Föderation von den „Kleinrussen“ (malorossy) der Ukraine entfremdet.
Die Moskauer Besatzungspolitik in der Ukraine zur Umkehrung dieser angeblich durch das Ausland verursachten Aufspaltung der russischen Zivilisation könnte als Versuch einer Neugeburt „Kleinrusslands“ verstanden werden. Das Ziel des Kremls besteht darin, in den von Russland annektierten Gebieten der Ukraine eine lokale politische, soziale, kulturelle und anthropologische Revolution herbeizuführen. Damit ist die Russifizierungspolitik in der Ukraine klassisch faschistischer Innen- und Besatzungspolitik ähnlich, sodass man die transformativen Ziele Moskaus in Bezug auf Russlands ukrainische „Brüder“ als quasi-faschistisch einstufen könnte.
Andreas Umland, 1967 in Jena geboren, studierte Politik und Zeitgeschichte in Leipzig, Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Er ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten, Dozent für Politikwissenschaft an der Kiewer Mohyla-Akademie und Herausgeber der Buchreihen „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ sowie „Ukrainian Voices“ beim ibidem-Verlag Stuttgart.
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