KI-generierte Grafik.
Die Hauptstadt diskutiert über ein Gesetz zur Verbannung privater PKW. Der zugelassene Volksentscheid sorgt für Empörung – nicht nur bei Autofahrern. Kommentar.
In Berlin könnte es nächstes Jahr einen Volksentscheid über eine weitgehend autofreie Innenstadt geben.
Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatte eine Initiative zusammen mit knapp 50.000 Unterstützer-Unterschriften bereits im August 2021 bei der Senatsverwaltung für Inneres eingereicht und die förmliche Einleitung eines Volksbegehrens beantragt.
Der Senat (Berliner Landesregierung) sah jedoch verschiedene rechtliche Bedenken. Unter anderem kollidiere der Gesetzentwurf mit höherrangigem Recht. Auch seien Grundrechte und andere Verfassungsgüter tangiert.
Denn nach dem Gesetzentwurf sollen auf den meisten Straßen innerhalb des S-Bahn-Rings Kraftfahrzeuge nur noch in definierten Ausnahmefällen fahren dürfen.
Dazu gehören die öffentliche Daseinsvorsorge und notwendiger Lieferverkehr. Private Autofahrten hingegen sollen nur noch an zwölf Tagen im Jahr nach begründeter Beantragung möglich sein, beispielsweise für einen Umzug.
Volksentscheid über Autoverkehr zulässig
Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat nun am 25. Juni entschieden, dass die Abstimmungsvorlage zulässig ist (VerfGH 43/22). Damit ist nun zunächst das Parlament dran zu entscheiden, ob es den Gesetzentwurf wenigstens „in seinem wesentlichen Bestand“ annehmen möchte.
Geschieht dies nicht, kann ein Volksbegehren gestartet werden mit neuerlicher Sammlung von etwa 175.000 Unterstützer-Unterschriften. Am Ende könnte es dann zum Volksentscheid kommen, bei dem alle Wahlberechtigten über den Gesetzentwurf abstimmen.
„Spielwiese grüner Aktivisten“
Die verfassungsrechtliche Zulassung hat bereits einige Empörung ausgelöst, vor allem in den Medien des Axel-Springer-Verlags.
Dieses Volksbegehren ist so verrückt, dass man es kaum in Worte fassen kann. Es geht auch gar nicht vom Volk aus, sondern von radikalen Grüppchen, die ihre Ideologie durchsetzen wollen.
Die Volksgesetzgebung sei „zur Spielwiese von linken und grünen Aktivisten geworden“, meint Schupelius. Das müsse ein Ende haben.
In einem Gastkommentar äußert sich Eberhard Diepgen sehr ähnlich. Er war von 1984 bis 1989 sowie von 1991 bis 2001 regierender Bürgermeister (was in anderen Ländern dem Ministerpräsidenten entspricht).
Es bleibt die Frage, ob nach den Erfahrungen mit politischen Extremisten und einseitigen Lobbygruppen die landesgesetzlichen Voraussetzungen für die Einleitung von Bürgerbegehren überarbeitet werden müssen.
Eberhard Diepgen, BZ
Volksentscheid stärkt AfD?
Auch Welt-Herausgeber Ulf Poschardt zieht in einem Video-Gespräch hart vom Leder, unter anderem mit dem Vorwurf, die Initiative hinter „Berlin autofrei“ sei „weniger divers als der Ku-Klux-Klan“ und werde die AfD stärken.
Das ist insofern interessant, als sich gerade die AfD für Volksgesetzgebung auf Bundesebene einsetzt – in den Ländern gibt es sie inzwischen überall. Und – kleiner Witz der Geschichte – genau dieser Zuneigung zu Volksentscheiden ist zu verdanken, dass sich innerhalb weniger Jahre das Beteiligungsformat „Bürgerrat“ etabliert hat. Denn manchem Anhänger direkter Demokratie war die plötzliche Nähe zur AfD unangenehm, so dass man für Alternativen offen wurde.
Was also an „Extremismus“ droht, ist eine Abstimmung der Berliner über den Verkehr in ihrer Innenstadt. So wie kürzlich in Paris abgestimmt wurde – mit dem Ergebnis, dass dort 500 weitere Straßen autofrei werden.
Autofahren überall als Grundrecht?
Kritiker der Berliner Volksinitiative gehen davon aus, mit dem eigenen PKW in einer Stadt unterwegs zu sein sei ein Grundrecht. Was sie dabei geflissentlich übersehen: Autofahrer müssten eigentlich ihre Ansprüche mit den anderen Verkehrsteilnehmern und sonst wie Betroffenen demokratisch aushandeln.
Denn sie fordern etwa ungleich mehr Platz als Radfahrer und Fußgänger. Sie beanspruchen bisher überwiegend kostenlose oder als Anwohner fast kostenlose Stellflächen für ihre Fahrzeuge im öffentlichen Raum. Sie belasten die übrige Gesellschaft mit Lärm, Abgasen und einer deutlich höheren Verletzungsgefahr.
Dass Städte wie Berlin oder Paris nie für den heutigen Autoverkehr geplant wurden, liegt auf der Hand. Eher wurden sie von den Pkw mit dem Recht des Stärkeren erobert. In ihrer ausführlichen Gesetzesbegründung rechnet die Initiative dies mit vielen Daten vor.
Die rund 1,2 Millionen regelmäßig im gesamten Stadtgebiet von Berlin befindlichen Autos wären hintereinander geparkt 7.200 Kilometer lang, ein Drittel länger als das gesamte Berliner Straßennetz.
Gesetzentwurf, Seite 16
Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs an den pro Tag zurückgelegten Personenkilometern (Verkehrsleistung) betrage 41 Prozent, der des „Umweltverbunds“ (zu Fuß, per Rad oder ÖPNV) hingegen 59 Prozent.
Über Details der vorgeschlagenen Regelungen lässt sich trefflich streiten. Aber notwendig ist ein privater PKW innerhalb Berlins Innenstadt ganz sicher nicht. Das Netz aus Bussen, U-, S- und Straßenbahnen ist sehr dicht, die Strecke zwischen zwei U-Bahn-Haltestellen einer Linie kann man fast überall in 10 Minuten zu Fuß zurücklegen.
Es ist Sache der Berlinerinnen und Berliner, zu entscheiden, wie sie ihre Stadt entwickeln wollen. Wie immer die Sache ausgehen wird: Extremismus ist dabei nicht in Sicht, ob nun alles beim Alten bleibt oder eine deutlich andere Zukunft gestaltet wird.
Volksentscheid ist demokratisch
Bleibt der vielfach zu vernehmende Einwand, eine Entscheidung für die autofreie Innenstadt wäre am Ende undemokratisch, sollte das Quorum von 25 Prozent Zustimmung der Wahlberechtigten nur knapp erreicht werden.
„Warum soll diese Minderheit ausreichen, um ein Gesetz in Kraft zu setzen, das weitreichende Folgen für alle hat?“, fragt Gunnar Schupelius in seinem Kommentar.
Ganz einfach: Weil es jedem freisteht, gegen den Gesetzentwurf zu stimmen. Enthaltungen zählen auch bei Parlamentswahlen nicht.
Warum sollte es demokratischer sein, wenn 89 Abgeordnete der Regierungsparteien CDU und SPD im Block für oder gegen das Gesetz stimmen, als wenn mindestens 600.000 Bürger ein Votum abgeben?
Es bleibt in jedem Fall noch viel Zeit, für seine persönliche Position zu werben.