Kyjiw ist seit 1961 eine Partnerstadt von Leipzig. Russland griff 2014 die Ukraine an, mit der Besetzung der Krim, und seit 2022 tobt der großflächige Krieg Russland gegen die Ukraine. Leipzig unterstützt seine Partnerstadt, unter anderem mit technischen Mitteln, auch viele Leipzigerinnen und Leipziger engagieren sich in der Ukrainehilfe. Erstmals seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat jetzt eine offizielle Delegation der Stadt Leipzig unsere Partnerstadt besucht. Wir sprachen mit Ulrich Hörning, Verwaltungsbürgermeister der Stadt Leipzig und Leiter der Steuerungsgruppe Ukraine, über seine Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse.

Herr Hörning, Sie waren mit einer kleinen Delegation der Stadt Leipzig in Kyjiw. In der Bevölkerung, auch bis in den Stadtrat von Leipzig, gibt es Parteien oder Akteure, die meinen, es müsse endlich Schluss sein mit dem Krieg, egal wie er ausgeht. Es geht oft nicht mehr darum, dass dieser Krieg eine Aggression Russlands ist. Diese Menschen haben es einfach satt, sie wollen nicht mehr darüber reden, nicht mehr damit konfrontiert werden, es stört sie in ihrer Komfortzone. Sie haben jetzt Kyjiw und die Menschen dort im Krieg erlebt. Wie lief das ab und was waren Ihre Eindrücke?

Nach elf Jahren Krieg in der Ukraine – 2014 war die Besetzung der Krim, seit drei Jahren Vollinvasion –, egal wie man es zählt, es ist schlimm. Uns war es wichtig, uns aus unserer Perspektive zu lösen, unserer Solidarität mit mehr als nur Worten Ausdruck zu geben, uns ein Bild zu machen und die Botschaften der Menschen aus Kyjiw mit in unsere Stadt zu bringen.

Es ist Krieg in Europa, es ist menschliches Leid, was dort von Russland über dieses Land gebracht wird, ein Land, welches sich als europäisch empfindet, welches europäisch lebt und welches auch politisch nach Europa will. Europäisch heißt Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Das ist das, was die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen und weshalb sie von Russland angegriffen wurden.

Maidan Ehrung am 23.06.2025Maidan-Ehrung am 23.06.2025. Foto: Stadt Leipzig

Wir haben uns als Stadt Leipzig entschieden, diese Reise unter einer gewissen Vertraulichkeit vorzubereiten. Wir haben das sehr genau geplant, mit der Botschaft, aber auch mit anderen Organisationen, die schon gereist sind und sind Samstag, dem 21.6. losgefahren und waren am Mittwoch, dem 25., also pünktlich zum Stadtrat, wieder in Leipzig. Mit dem Nachtzug von Przemysl, das ist die polnische Grenzstadt, sind wir im Liegewagen gereist, also nicht so wie Herr Macron und Herr Merz, mit großem Schlafwagen und Konferenzabteil.

Wir waren im Liegewagen mit vielen ukrainischen Frauen, Kindern und Familien. Wir haben dort Menschen getroffen in diesem Zug, aber auch an anderer Stelle später in der Stadt. Menschen, die von diesem Krieg erschöpft sind, auch teilweise ermattet und ausgebrannt, sind durch die Bombennächte, durch persönliche Verluste in allen Familien, die aber ungebrochen sind, in ihrem Willen zum Widerstand und ihrem Willen zur Selbstbestimmung.

Sie sagten gerade, die Menschen sind ungebrochen in ihrem Willen. Das ist ja genau das, was hier teilweise bestritten wird. Von Akteuren wird gesagt, dass die Menschen einfach Frieden wollen, egal wie.

Ich glaube, das ist eine Position, die sich aus einer deutschen Sicherheit, bisher auch noch vom NATO-Schirm geschützt, sehr einfach formulieren lässt, auch natürlich oft kombiniert mit dem Wunsch nach erneuten preiswerten Gaslieferungen. Das ist richtig, aber wir haben ja auch als Bundesrepublik viel getan, um uns von diesen Abhängigkeiten zu befreien.

Bei dieser Reise ging es uns nicht so sehr um die große Politik oder die Verteidigung der Ukraine, das ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind eine Partnerstadt, wir leisten dort keine militärische Hilfe. Wir können dort unserer Solidarität Ausdruck verleihen und wir können dort auch unserer Trauer Ausdruck verleihen.

Das haben wir getan, wir waren an zwei unmittelbaren Einschlagsorten, wo in zivile Wohnhäuser russische Raketen eingeschlagen haben und bei denen über 30 Personen getötet, mehrere 100 verletzt wurden. Ich habe darüber im Stadtrat berichtet, auch über den Namen des getöteten Kindes in diesem zweiten Einschlagsort von Sonntag auf Montag, im Schewtschenko-Bezirk von Kyjiw. Wir waren dort vor Ort und konnten zusammen mit dem Leiter des Kyjiwer Zivilschutzes unmittelbar ein Gespräch zur Koordinierung von Hilfsleistungen führen.

Bei der Feuerwehr in KyjiwBei der Feuerwehr in Kyjiw. Foto: Stadt Leipzig

In all dem Schrecken konnten wir aber auch feststellen, dass unsere Hilfslieferungen ankommen: Da waren Feuerwehrautos, die aus Bundesmitteln, aber auch aus Leipziger Stadtratsgeld bezahlt wurden, die wir geliefert haben und die aus dem nächtlichen Einsatz zurückkamen. Wir haben dort auch kleine Transporter gesehen, da war ein Team des Grünflächenamts des lokalen Stadtbezirks am Werk und hat weggesprengte Bäume abgesägt, die vor diesem Gebäude im Schewtschenko-Bezirk standen.

Die sind mit einem Leipziger Transporter gekommen. Das war in diesem Chaos und in diesem Drama dort ein ganz unmittelbarer Ort, wo man eben auch gesehen hat, was Leipziger Hilfe bewirken kann. Und das ist was, was uns auch wichtig war, unseren Bürgerinnen und Bürgern sagen zu können: Diese Partnerschaft mit Kyjiw ist nicht nur etwas, was irgendwo auf einem Kulturpodium oder auf einer Konferenz in Brüssel stattfindet, wo man sich die Hände schüttelt und alles Gute wünscht.

Es ist auch ganz konkret durch einen Besuch vor Ort hinterlegt und wir haben auch verschiedene andere Strecken, ob das jetzt Kultur ist oder Bürgerbeteiligung oder Katastrophenschutz, wo wir natürlich jetzt auch weiter fachlich im Gespräch sein wollen.

Sie sprachen gerade über die humanitäre und technische Unterstützung, die von Leipzig geleistet wird. Eine Frage an den Leiter der Steuerungsgruppe: Die Medien, besonders die sozialen Medien liefern dazu teilweise ein verzerrtes Bild. Wie ist aus Ihrer Sicht die Bereitschaft der Leipzigerinnen und Leipziger zu helfen?

Kyjiw haben wir erlebt als eine lebendige, funktionierende, pulsierende europäische Stadt im Sommer. Die Hilfsbereitschaft der Leipzigerinnen und Leipziger ist, denke ich, weiterhin mehrheitlich sehr hoch. Noch immer gibt es ein breites Unterstützungsnetzwerk in Leipzig, die sich direkt engagieren, aber auch die Bedeutung des Themas präsent halten.

Wir müssen natürlich auch zur Kenntnis nehmen, dass wir mit AfD und BSW zwei Parteien im Stadtrat sehr prominent vertreten haben, die explizit die weitere Nicht-Unterstützung der Ukraine zu ihrem Programm gemacht haben und dafür auch im Rahmen der Europawahl und im Rahmen der Kommunalwahl entsprechende Stimmenanteile bekommen haben.

Das drückt sich dann wohl auch in der Stadtratsarbeit aus?

Es drückt sich durch teilweise sehr unsachliche Themen im Stadtrat aus. Dort werden jeden Monat, auch von anderen politischen Kräften, teilweise obskure Themen aus dem russischen Telegram-Universum gezogen und in Stadtratsanfragen verarbeitet. Ob das jetzt der Atomschlag auf Leipzig ist oder die NATO-Pipeline durch Leipzig oder die Polizeigewalt in der Ukraine. Auch die Wiedereröffnung des russischen Generalkonsulats, welches heute an der Boris-Romantschenko-Straße liegt.

Diese Straße wurde auf Initiative der Linksfraktion umbenannt, nach einem russischsprachigen Antifaschisten und Holocaust-Überlebenden aus Charkiw, der getötet wurde. Unser Stadtrat hat allerdings, das muss man auch sagen, das seit 2022 geführte Ukraine-Budget auch für den Doppelhaushalt 2025–2026 unterstützt. Das wurde von CDU bis Linkspartei getragen und auch einstimmig so im entsprechenden Vorbereitungsausschuss abgestimmt.

Wir haben hier eine ganz klare Positionierung des Leipziger Stadtrats. Und das ist das, was am Ende zählt, nämlich für dieses Hilfsbudget und für diese weitere humanitäre Hilfe, aber auch für die Hilfe der Geflüchteten hier vor Ort.

Sie sind ja nicht nur als Bürgermeister in Kyjiw gewesen, sondern auch als Mensch, als Ulrich Hörning. Was macht dieser Besuch mit Ihnen persönlich?

Zuerst einmal war es beeindruckend, diese Stadt zu sehen, wenn Sie sich dort bewegen. Sie sehen erst mal keine Zerstörung. Sie sehen natürlich an bestimmten Ecken uniformiertes Personal, Sie sehen aber nirgends erhöhte Militärpräsenz. Sie haben auf einem Platz russische Militärtechnik, die ist dort als Trophäe, als Symbol, ausgestellt.

Es macht natürlich was mit einem, wenn man vor einer Wand von Toten, die ab 2014 dort auch an dieser Klostermauer abgebildet sind, steht. Und man sieht da viele tausend Bilder von Männern und Frauen, die dort hängen. Und man macht sich natürlich auch seine eigenen Gedanken über sich selbst und über diese Männer, die dort gestorben sind.

Man macht sich aber auch Gedanken über die getöteten russischen Soldaten in den jetzt verrosteten Panzern. Auch das sind Menschen, die in diesem Krieg zu Tode gekommen sind. Und das ist erst einmal etwas ganz Ungewohntes und ganz Schlimmes. Aber natürlich ist es eine Realität, die hier in Europa stattfindet. Und man muss sich dieser Realität stellen. Kriege werden leider nicht einvernehmlich und in hoher Achtsamkeit, miteinander auf Augenhöhe vereinbart. Sondern sie werden einseitig ausgelöst.

Diesen Krieg hat niemand in der Ukraine bestellt. Es hat auch niemand den Nazi-Überfall auf Polen, Dänemark und die Niederlande bestellt. Krieg ist etwas, was für unsere pazifizierte Zivilgesellschaft sehr schwierig zu fassen ist, weil wir ja gewohnt sind, dass alles achtsam und einvernehmlich miteinander vereinbart wird. Und, dass alles verhandelbar ist. Auf einmal ist dort eine Realität, die eben für die Ukrainer heißt: Menschen stehen im Vorgarten eines Hauses in Butscha und erschießen Bewohner. Das wird nicht verhandelt, das ist real, das ist der Einbruch des Realen. Ich glaube, das ist etwas, was es uns in der bundesdeutschen Gesellschaft sehr schwer macht zu begreifen.

Aber was hat es mit dem Ulrich Hörning gemacht? Ich habe mich an einen Besuch erinnert gefühlt, den ich beruflich 2011 mit der Weltbank hatte. Das war noch in der Zeit vor der Maidan-Revolution, also vor einem wirklich klaren Aufbruch der Ukraine nach Europa. Was wir heute dort haben, ist ein Land, welches sich seit 2014 auf ganz vielen Ebenen massiv reformiert.

Mit einer Kommunalreform, für die maßgeblich Georg Milbradt steht. Als Berater der Bundesregierung, als ehemaliger sächsischer Ministerpräsident, als ganz klarer Verfechter der kommunalen Selbstverwaltung. Das ist ein grundlegender Demokratiefortschritt in diesem Land.

Dass dieses Land mit unabhängigen Bürgermeistern 2022 nicht als sowjetischer Zentralstaat verteidigungsfähig war, sondern sich vor Ort verteidigt hat, vor Ort die Menschen erlebt haben, wie Demokratie, wie Mitbestimmung, wie auch Antikorruptionsarbeit konkret wirkt. Das sind ganz viele Dinge, in denen dieses Land seither auch noch im Krieg weiter auf dem Weg ist. Und das ist erstmal ein großer Unterschied zu dem, was ich 2011 erlebt habe.

Chreschtschatyk 25 "Haus mit Stern" in KyjiwChreschtschatyk 25 „Haus mit Stern“ in Kyjiw. Foto: Stadt Leipzig

Ansonsten ist natürlich diese Stadt eine Dualität oder auch ein Widerspruch. Man erlebt eine europäische Stadt im Sommer mit vollen Cafés, mit Straßenmusik, mit Menschen auf den Boulevards. Plötzlich kippt die Stimmung, Luftalarm, die Menschen eilen in die Schutzräume. Man erlebt gleichzeitig an bestimmten Punkten zerstörte Häuser, herausgeschossene Scheiben an diesen Häusern.

Alles, was es dort an strukturellen Schäden gibt, ist aber innerhalb von zwei, drei Tagen beseitigt. Wir haben dort an der einen Einschlagstelle Helfer getroffen, die mit Holz und mit Plastik und anderen Hilfsmitteln, mit der Kreissäge, mit Helmen, die sie dabei haben, den Bewohnern, soweit die Häuser noch strukturell standfähig sind, ihre Wohnungen sofort wieder so zurechtzumachen, dass man dort weiter wohnen kann. Und das hat man beides erlebt.

Kommen wir zum Schluss: Was ist das Fazit der Reise?

Wichtig ist, es war keine Trauerreise, sondern es war eine Solidaritätsreise mit vielen fachlichen Aspekten. Wir kamen ins Museum der Geschichte Kyjiws-Museum und die Leiterin arbeitet schon mit dem Leiter des stadtgeschichtlichen Museums Leipzig zusammen. Wir kamen zur Feuerwehr, die Kollegen sind mit unserer Feuerwehr in Kontakt.

Wir kamen zum Bürgerbeteiligungs-Hub, den wir dort besichtigt haben. Die Kollegen arbeiten mit unserem Quartiersmanagement. Das heißt, wir haben an ganz vielen Stellen auch schon einfach nur Dinge besucht, gesehen, besprochen, zu denen wir laufend als Gegenstand der Partnerschaftsarbeit im Gespräch sind.

Man kann also sagen: Trotz Krieg läuft die Demokratisierung und die Demokratiearbeit in der Ukraine weiter?

Das war unser Eindruck, das ist deren Ansporn. Gerade im Krieg, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren, gesellschaftlichen Zusammenhalt weiter zu organisieren, die Spaltung nicht zuzulassen, den Menschen eine Aufgabe zu geben. Je breiter Verantwortung geteilt, je mehr beteiligt wird, desto stärker ist die Gesellschaft. Jeder hat seinen Platz. Die Lehrerin, die unterrichten geht, die Rathausperson, die zur Arbeit geht, der Bauarbeiter, der dort ein neues Gebäude errichtet. Auch das passiert, es werden neue Gebäude gebaut.

Es werden Straßen errichtet, es werden Brücken errichtet, es wird überall gebaut. Und der Soldat. Ja, jeder hat seine Rolle in diesem Kampf. Und ich glaube, das ist das, was wir dort gesehen haben. Und deshalb gehen natürlich auch Demokratisierung, Digitalisierung, Reformen weiter, vielleicht auch manchmal mit einem Rückschritt. Aber es wird überall etwas getan.

Das war ein sehr bewegendes Erlebnis und man wird dann sehr bescheiden, weil man sich denkt: Was machen wir in unserer Sicherheit, in unserem Wohlstand, was bewegen wir eigentlich?

Herr Hörning, das nehmen wir als Schlusswort. Ich bedanke mich für das Gespräch.