Nach seinem Tod wurde der Kult um Stalin beendet. Zu schlimm war die Terrorpolitik des Sowjetdiktators gewesen. Doch unter Russlands Präsident Putin wird die Verehrung neu verordnet. Warum?
„Wer ist für Sie die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten und Nationen?“, fragte vor einigen Tagen das unabhängige russische Lewada-Zentrum.
Das Ergebnis war eindeutig und ist repräsentativ für die öffentliche Meinung in Russland: Josef Stalin gilt mit weitem Abstand als die bedeutendste Person, gefolgt von Präsident Wladimir Putin, auf Platz drei ist Wladimir Iljitsch Lenin.
„Ordnung“, „Disziplin“ und der Sieg im Krieg
Doch woher kommt die Stalin-Begeisterung? Unter seiner Führung habe Russland den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – dem Zweiten Weltkrieg – errungen, erklärt eine Frau im Zentrum Moskaus. Deshalb sei er so bedeutend.
„Wir hatten das Motto: Wir sind für die Heimat und für Stalin in den Tod gegangen. Vielleicht war er streng, vielleicht war er hart, aber damals brauchte man nichts anderes. Es gab Ordnung, es gab Disziplin, und das Volk folgte ihm“, meint eine andere Passantin.
Josef Stalin als strahlender Sieger über Nazi-Deutschland: Per Erlass ordnete Putin Ende April an, den Flughafen von Wolgograd wieder in Stalingrad umzubenennen.
Georgij Filimonow ist Gouverneur von Wologda nordöstlich von Moskau. Er ist stolz auf mehrere neue Stalin-Denkmäler in seinem Gebiet. Als er zum Tag des Sieges über Deutschland am 9. Mai an einer der Büsten Blumen niederlegte, sagte er: Der Sieg im Zweiten Weltkrieg trage den Namen von Stalin. Intellekt und Führungsgenie des Oberbefehlshabers seien ausschlaggebend gewesen. „Deshalb müssen wir sein Andenken ehren.“
Stalins Politik des Terrors scheint vergessen
Der brutale Diktator Stalin dagegen scheint in Vergessenheit zu geraten: der Architekt des großen Terrors nach 1936, mit Massenverhaftungen, sogenannten Säuberungen in Partei und Armee, der Ermordung Hunderttausender sogenannter Volksfeinde. Stalin, der Verantwortliche für Massendeportationen, Zwangsarbeit und einer katastrophalen Hungersnot nach der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft.
Organisationen, die das aufzuarbeiten versuchten, sind inzwischen in Russland verboten – allen voran die verdienstvolle Menschenrechtsorganisation Memorial. „Es ist ein Prozess der Restalinisierung im Gange. Warum werden Denkmäler für Opfer politischer Repressionen zerstört oder geschändet, aber Stalins Denkmäler und Reliefs errichtet?“, fragt Boris Wischnewskij, Politiker der oppositionellen Jabloko-Partei in St. Petersburg.
Stalin-Verehrung um Putin zu stärken?
Seine Frage beantwortete er im YouTube-Kanal Schiwoj Gwosd gleich selbst. Der Staat habe unter Stalin Verbrechen begangen, „Unschuldige verurteilt, erschossen, ins Exil, ins Gefängnis oder in ein Lager geschickt“, sagt Wischnewskij.
Vielleicht sind die, die heute bei uns für ihre Worte vor Gericht gestellt und zu sechs, sieben oder acht Jahren Haft verurteilt werden, genauso unschuldig wie diejenigen, die zu Stalins Zeiten verurteilt wurden? Damit den Leuten solche Analogien gar nicht erst in den Sinn kommen – deshalb wird die Erinnerung an Stalins Repressionen ausgelöscht, und die Organisatoren dieser Repressionen und die Henker werden gelobt.
Opposition gegen Stalin-Kult nicht erlaubt
Auf dem Taganka-Platz in Moskau sollte es diese Woche eine kleine Protestaktionen geben – beantragt von der kleinen oppositionellen Jabloko-Partei Wischnewskijs. Der Grund: ein großes Stalin-Relief in der naheliegenden U-Bahnstation. Das Relief war Jahre nach dem Tod des Diktators abgerissen worden – doch jetzt ist es wieder da.
Im Namen der Opfer der Stalin-Unterdrückung sollte dagegen protestiert werden. Ganze 20 Teilnehmer waren zur Aktion angemeldet, aber die Moskauer Stadtverwaltung sagte mit einer liebgewordenen Ausrede aus Covid-Zeiten ab: Die epidemiologische Lage sei schwierig und lasse das nicht zu.
Trotz des Verbots hat Jabloko eine Unterschriftensammlung für die Demontage des Stalin-Denkmals gestartet. Sie ist ohne jede Aussicht auf Erfolg. Dennoch: Es kamen bislang immerhin 5.000 Unterschriften zusammen.