In Frankreich spricht man jetzt vom Ende der „Omertà“, wie man das Gesetz des Schweigens bei der Mafia nennt. Nur dass die abgründige Welt, die da während Jahrzehnten versteckt worden war, eine heile sein sollte, die heilste überhaupt, die Welt der Kinder: die Schule.

Aus dem 330 Seiten langen und reich dokumentierten Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission geht hervor, dass vor allem an katholischen Privatschulen im Land Minderjährige über viele Jahre hinweg zum Teil „systematisch“ missbraucht worden sein sollen. Mit Schlägen, mit sexuellen Übergriffen, mit Vergewaltigungen, mit Erniedrigungen, mit Folter. Im Bericht liest man von „Fusstritten an den Hals“, von „Köpfen, die so lange auf die Schulbank geschlagen wurden, bis die Hefte voller Blut waren“, von „gebrochenen Nasen, ausgekugelten Schultern, ausgerenkten Kiefern“.

Der Staat hörte weg, wenn es Beschwerden gab

Am stärksten betroffen waren ausgerechnet die Verletzlichsten unter den Schülern. Jene etwa, die aus ärmeren Familien stammten, solche mit Lernproblemen oder Behinderungen und sozial Ausgegrenzte, die Jüngeren häufiger als die Älteren. Oft war es also so, dass die Zerbrechlichsten in den Klassen von den Erwachsenen, die sie begleiten und fördern sollten, gebrochen wurden. Von Geistlichen, von Laien. Und der Staat? Er schaute nicht hin. Und er hörte weg, wenn sich die jungen Opfer meldeten.

Bis jetzt. Wegschauen geht nicht mehr. Die Zeitungen sind voll mit seitenlangen Berichten. Nach #MeToo in der französischen Kulturszene und den sexuellen Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche Frankreichs zerren diese erschütternden Erkenntnisse aus der Schulwelt ein weiteres Tabuthema in die Öffentlichkeit: die Gewalt gegen Schüler.

Frankreichs Justizminister Gérald Darmanin, der jetzt erklären soll, warum seine Amtsvorgänger nicht entschieden gegen das Phänomen kämpften, sagte es bei einem Auftritt am Fernsehen so: „Der Staat hat auf allen Ebenen versagt, er hat die Kinder der Republik nicht geschützt.“ Was man jetzt wisse, sei nur ein kleiner Teil, da komme noch viel mehr. „Wir müssen der Wahrheit ins Gesicht schauen.“

Etwa ein Fünftel der französischen Kinder besucht katholische Privatschulen. 7500 davon gibt es im ganzen Land. Sie sind eine Welt für sich, in der allgemeinen Wahrnehmung gelten sie als elitär, was nicht für alle Schulen stimmt. Gestützt wird diese Welt von einer starken, politisch einflussreichen Lobby, die dafür sorgt, dass sich möglichst nichts an den Strukturen ändert. Die katholischen Schulen verstehen sich als weitgehend autonom, obschon sie zu 70 Prozent vom Staat finanziert werden. Im Gegenzug müssten sie den pädagogischen Vorgaben aus dem Erziehungsministerium genügen. Aber tun sie das auch?

Die Frau des Premiers unterrichtete an einer der Problemschulen

Ausgelöst wurde die Untersuchung durch die so genannte „Affäre Bétharram“. Notre-Dame de Bétharram ist eine katholische Privatschule bei Pau im Südwesten Frankreichs, gegründet 1837. Sie war einmal angesehen, eine Eliteschmiede mit Internat, streng geführt. Die reichen Familien aus der Region schickten ihre Sprösslinge dorthin. Auch die Kinder des amtierenden Premierministers, des Christdemokraten François Bayrou, gingen in Bétharram zur Schule. Seine Frau unterrichtete dort den Katechismus, man ist sehr katholisch. Bayrou ist der mächtigste Politiker in der Gegend, er ist auch Bürgermeister von Pau.

Nach Bekanntwerden der Vorwürfe kam es zu Demonstrationen, wie hier im Februar vor der Privatschule Bétharram im Südwesten des Landes.Nach Bekanntwerden der Vorwürfe kam es zu Demonstrationen, wie hier im Februar vor der Privatschule Bétharram im Südwesten des Landes. (Foto: PHILIPPE LOPEZ/AFP)

Das alles ist wichtig in diesem Fall, die Personalie machte aus der Missbrauchsaffäre auch eine politische. Im vergangenen Jahr enthüllte das Investigativportal Mediapart den Missbrauchsskandal von Bétharram und zeigte dabei auf, wie fragwürdig Bayrou agierte, als er in den 1990er Jahren französischer Erziehungsminister war. Konnte es sein, dass er nichts wusste vom Gewaltexzess an der Schule, wie er das im Parlament behauptete? Oder deckte er etwa die Schule in seiner Heimat? Man fragte sich, ob der unpopuläre Premier nicht sofort zurücktreten müsste wegen dieser Affäre.

So entschied sich das Parlament für eine Untersuchung. Es löste damit eine Welle an Aussagen aus: Mehr als 200 ehemalige Schüler von Bétharram nahmen ihren Mut zusammen und erzählten vom Horror, den sie da erlebt hatten. In Bétharram mussten Kinder zur Strafe auch mal eine Nacht draussen verbringen, stehend auf der Vortreppe der Schule, nur mit einer Unterhose bekleidet, selbst im Winter. Die Kommission erhielt Tausende Zeugnisse aus anderen katholischen Schulen im Land, in nur drei Monaten hatten sich achtzig neue Opferkollektive formiert. Die beschriebenen Zustände waren überall ähnlich.

Künftig sollen die Schulen strenger kontrolliert werden

Einer der Berichterstatter, der linke Abgeordnete Paul Vannier, sagte bei der Vorstellung der Studie, dass ihn die monatelange Arbeit in dieser Kommission für immer gezeichnet und verändert habe, als Mensch und als Politiker: „Ich konnte mir ja vieles vorstellen: verbale Gewalt, psychologische Gewalt, physische Gewalt, sexuelle Gewalt. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kinder in der Schule gefoltert würden, dass ihnen Wasser gespritzt wird, dass man ihnen Schlaf und Nahrung entzieht – ein unendlich sadistisches Spiel.“

Die Untersuchungskommission schlägt fünfzig Massnahmen vor, um die Kinder in Zukunft besser zu schützen. So soll es unter anderem bald eine neue Plattform für die Meldung von Missbrauchsfällen geben und, vor allem, einen konsequenteren Umgang damit. Bisher ist es so, dass Hinweise von Opfern fast nie Folgen haben, dass Lehrpersonen kaum je suspendiert werden, gerade in den Privatschulen. Es soll jetzt mehr und regelmässige Kontrollen geben. Die Internate sollen gar jedes Jahr neu inspiziert werden, sie sind die problematischsten Orte. Von den 7500 Privatschulen in Frankreich sind in den vergangenen sechs Jahren nur zwölf vom Staat kontrolliert worden.

Im Parlament soll nun auch darüber debattiert werden, ob gewisse Verbrechen gegen Minderjährige nicht mehr verjähren können, etwa solche, wie sie nun in grosser Zahl bekannt werden. Das wäre eine strafrechtliche Revolution, denn bisher haben in Frankreich nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen keine Verjährungsfrist. So soll verhindert werden, dass mutmassliche Verbrecher wie der frühere Zuchtmeister von Bétharram trotz hundert Anzeigen von Opfern nicht von der Justiz verfolgt werden können – alles verjährt.

Man könnte denken, dass die „Monstrositäten“, wie die Kommission die Gewalt beschreibt, das Land zusammenbringen würden, auch die Politik. Schliesslich geht es um die Kinder.

Stattdessen wird gestritten. Die extreme Rechte von Marine Le Pen wirft der Untersuchungskommission vor, sie befeuere den alten Kulturkampf zwischen öffentlicher und privater Schule neu, sie würde die katholischen Schulen aus ideologischen Gründen schlecht machen. In den Talkshows von CNews, dem Nachrichtensender im Besitz des rechtsidentitären Multimilliardärs Vincent Bolloré, heisst es, die woke Linke führe da einen Kreuzzug gegen „alte Erziehungsmethoden“ – à l’ancienne. Als wäre die Gewalt nur Folklore. Und so droht das leibliche und seelische Wohl der Kinder im Nebel des Kulturkampfs wieder unsichtbar zu werden.