Cover Simon Ralph Gibson, "Photographs 1960–2024"

Stand: 04.07.2025 09:03 Uhr

Obwohl seine Werke in allen bedeutenden Fotosammlungen der USA vertreten ist, gilt Ralph Gibson hierzulande noch immer als Geheimtipp. Ein neuer Bildband könnte das ändern. Auf 550 Seiten nimmt Gibson uns mit auf eine fotografische Reise durch sein Leben.

von Silke Lahmann-Lammert

Das Foto, das Ralph Gibson an den Anfang seines Buches stellt, zeigt wenig – und erzählt doch viel: Zu sehen sind die verschränkten Arme eines Mannes hinter seinem Rücken. Seine Jacke ist abgewetzt, die Hände von harter Arbeit gezeichnet. Umso zarter und zerbrechlicher wirkt die Rose, die er zwischen seinen Fingern hält.

Ralph Gibson hat das Rückenporträt 1960 in San Francisco aufgenommen. Schon damals interessierte er sich für Details, für Nahaufnahmen und Ausschnitte, die die Fantasie in Gang setzen: Wer ist der Mann mit den schmutzigen Händen? Arbeitet er in einer Werkstatt oder den nahegelegenen Docks? Und für wen ist die Rose bestimmt?

Als Gibson die Aufnahme machte, war er 21 und auf der Suche nach seinem eigenen Stil. Ein Kunst-Studium brach er ab, um als Assistent bei Fotografie-Größen wie Dorothy Lange und Robert Frank zu arbeiten.

In den ersten Jahren war ich mit meiner Arbeit so unzufrieden, dass ich das meiste davon wegwarf.

Leseprobe

Mit der Kamera durch New Yorks pulsierende Straßen

Die wenigen Frühwerke, die Gibsons gnadenloser Selbstkritik standhielten, bilden den Auftakt einer Reise durch das Oeuvre des 86-jährigen Fotografen. 1967 zog er von der Westküste nach New York:

… mit drei Leicas und 200 Dollar in der Tasche. Ich mietete ein Zimmer im Chelsea Hotel, in dem ich drei Jahre lang blieb. New York und ich passten wunderbar zueinander, als hätten wir aufeinander gewartet.

Leseprobe

Gibson fotografiert die Neonbuchstaben der Künstlerherberge vor einem schwarzen Nachthimmel. „Hotel“ – und im rechten Winkel darunter: „Chelsea“. Mit einem Gespür für geometrische Formen, für Licht und Schatten bringt er Struktur und Rhythmus in seine Bilder. Manche Aufnahmen erinnern an Arbeiten des russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko. Gibson zieht mit seiner Kamera durch die Straßen, fängt die pulsierende Stimmung ein, den Geschmack von Freiheit und Aufbruch, der Ende der 1960er-Jahre in der Luft liegt.

„The Somnambulist“: Der Durchbruch eines visionären Fotografen

1970 veröffentlicht er „The Somnambulist“, ein Buch, das ihn auf einen Schlag berühmt macht. Fotos, die wie Traumsequenzen wirken, zeigen rätselhafte, oft unheimliche Szenen: Eine nackte Frau treibt auf einem See. Zwei Menschen sitzen mit verbunden Augen auf einer Parkbank. Ein älterer Herr am Steuer einer glänzenden Limousine wendet sich erschreckt zur Seite.

Manche Aufnahmen sind stark angeschnitten und erinnern an Filmstills. Kein Wunder: Gibsons Vater arbeitete bei Warner Brothers und vermittelte seinem Sohn Statistenrollen in Hitchcock-Filmen. Eine Erfahrung, die ihn prägte: Wie der britische Regisseur arbeitet er mit Hinweisen und Andeutungen und überlässt es dem Publikum, sich das Unheimliche und Befremdliche auszumalen.

Gibsons magische Bildsprache und die Macht der Atmosphäre

Die Aufnahmen in dem neuen Bildband nehmen uns mit nach Europa, nach Afrika, Südostasien und Südamerika. Doch mehr als die Angabe, an welchem Ort wir uns befinden, bekommen wir nicht. Ralph Gibson ist kein Dokumentarfotograf. Seine Bilder atmen die Atmosphäre, die Stimmung einer Stadt. Das, was einen Ort faszinierend, geheimnisvoll und manchmal auch gefährlich macht. Es sind Fotos, die – wie ein Film – in unseren Köpfen weiterlaufen.

Cover Simon Ralph Gibson, "Photographs 1960–2024"

Ralph Gibson. Photographs 1960-2024

von

Seitenzahl:
552 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Taschen Verlag
ISBN:
978-3-7544-0268-9
Preis:
60 €