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Russinnen und Russen protestieren in Berlin gegen Putins Krieg in der Ukraine. © K.M.Krause/Imago
Die Menschenrechtsorganisation „Last Statement“ prangert Unrecht in Russland und seinen Nachbarstaaten an.
Der junge russische Dichter Artem Kamardin sitzt im Gefängnis, verurteilt zu einer siebenjährigen Haftstrafe, weil er ein kriegskritisches Gedicht öffentlich vorgelesen hatte. „Es ist inakzeptabel, wegen Kunst verurteilt zu werden. Leider geschieht das im heutigen Russland“, sagte er in seinem Schlusswort vor Gericht im Dezember 2023.
Der 34-jährige Kamardin, der unter einer Angststörung und Rückenbeschwerden leidet, müsste nach Auffassung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International dringend freigelassen werden, da er allein wegen der Ausübung seiner Meinungsfreiheit inhaftiert worden sei. Dass das Schluss-Statement des Poeten heute auf Russisch und Englisch im Internet nachzulesen ist, ist Olga Kozlova und den anderen Aktivistinnen und Aktivisten der Plattform „Last Statement“ zu verdanken, die in verschiedenen Ländern leben.
„Last Statement“ veröffentlicht Schlussworte von verurteilten Kreml-Kritikern
Das fünfköpfige ehrenamtliche Team hat mittlerweile 270 Schlussworte auf Russisch auf seiner Website veröffentlicht und 20 davon auch ins Englische übersetzt. Dazu zählen die Reden von Kamardin oder von prominenten Regimegegnern wie Wladimir Kara-Mursa. Der Weggefährte des ermordeten Oppositionspolitikers Noris Nemzow war im April 2022 wegen Hochverrats und angeblichen Falschangaben über das russische Militär zu 25 Jahren Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt worden.
Wie etliche andere formulierte Kara-Mursa in seinem Schlusswort eine positive Vision. „Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem die Dunkelheit über unserem Land sich auflöst“, sagte er. „Wenn Schwarz wieder Schwarz und Weiß wieder Weiß genannt wird. Wenn die Offiziellen wieder einräumen, dass zwei mal zwei vier ergibt. Wenn ein Krieg wieder bei seinem Namen genannt wird.“ Nachzulesen bei „Last Statement“, das der Anti-Kriegs-Bewegung zuzurechnen ist. Die Gruppierung verbreitet Informationen über politische Gefangene auf Medien wie Instagram, Telegram und Youtube sowie auf ihrer Website. Die Schlussworte sind in Prozessen eine Gelegenheit, ans Gericht zu appellieren oder sich an die Öffentlichkeit zu wenden – wobei die Öffentlichkeit nicht selten davon ausgeschlossen ist. Manche Texte sind daher auf Umwegen zu dem Menschenrechtsprojekt gelangt.
Putins Zirkel der Macht im Kreml – die Vertrauten des russischen PräsidentenFotostrecke ansehen„Last Stament“ in Russland: Damit „Worte nicht im Nachrichtenstrom untergehen“
Dabei steht zwar die Russische Föderation im Mittelpunkt. Doch zur Sammlung gehören auch Schlussworte aus Prozessen gegen Oppositionelle in der Sowjetunion seit den 1960er Jahren und entsprechende Texte aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie zum Beispiel Belarus, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Aserbaidschan.
„Das Schlusswort des Angeklagten ist nicht nur der emotionalste Moment eines Prozesses, sondern auch eine Gelegenheit, offen und öffentlich die eigene Position zu erklären“, sagt Olga Kozlova, die aus einer früheren Sowjetrepublik heraus agiert.
„In vielen dieser Länder ist der Gerichtssaal einer der wenigen Orte, an denen öffentliche Reden noch möglich sind. Deshalb ist es so wertvoll, diese Reden zu sammeln und zu bewahren. Wir wollen, dass diese gesprochenen Worte nicht im Nachrichtenstrom untergehen.“
Unterdrückte Meinungsfreiheit in Russland: Oft jahrelange Haftstrafen gegen Oppositionelle
Die Menschenrechts-Gruppierung beobachtet eine Entwicklung, die über das heutige Russland hinausgeht. „Wir wollen die Kontinuität betonen zwischen den verschiedenen Generationen von Aktivistinnen und Aktivisten, Politikerinnen und Politikern und den Verteidigerinnen und Verteidigern der Menschenrechte“, sagte Kozlova der FR. „Es ist erstaunlich, wie nah der Geist und der Inhalt von Schlussworten sein kann, auch wenn sie Dutzende von Jahren und Tausende von Kilometern voneinander entfernt gehalten wurden.“
Ausschnitt aus der Website von „Last Statement“ © FR
Doch zu deutliche Statements im Schlusswort bergen auch Risiken. Die Organisation „Last Statement“ weist auf Fälle hin, in denen die Strafen wegen der Äußerungen im Schlusswort verschärft wurden. Danach traf es etwa die 19-jährige Darya Kozyreva, die in ihrem Schlusswort den ukrainischen Nationaldichter zitierte. Dafür sei ihr eine Zusatzstrafe aufgebürdet worden. Kozyreva war nach Angaben der Organisation zu zwei Jahren und acht Monaten Haft in einer Strafkolonie verurteilt worden, weil sie Slogans gegen den Ukraine-Krieg verbreitet und einen Auszug aus Schewtschenkos Gedicht „Vermächtnis“ plakatiert haben soll.
Russlands Kampf gegen die Opposition – Strafen wegen kritischen Schlussworten verlängert
Auch die Strafe für den langjährigen Demokratieaktivisten Andrei Trofimow (59) wurde nach Angaben von „Last Statement“ wegen der Aussagen in seinem Schlusswort um mehrere Monate verlängert – zu zehn Jahren Haft unter verschärften Bedingungen und weiteren anderthalb Jahren mit Freiheitsbeschränkungen. Da die Öffentlichkeit von seinem Prozess ausgeschlossen war, wurde sein Schlusswort nur durch einen französischen Künstler bekannt, mit dem Trofimov korrespondierte.
Seine mutige Rede, gehalten im Juli 2023 vor dem Gericht in Konakowo, ist bei „Last Statement“ nachzulesen. „Sehr geehrtes Gericht, alles, was die Staatsanwaltschaft mir vorwirft, habe ich wirklich im Internet geschrieben“, sagte Trofimow demnach. „Ich rechtfertige und billige die Explosion auf der Krimbrücke im Herbst 2022 und die Angriffe ukrainischer Drohnen auf den Kreml und andere Ziele in und um Moskau vom Mai 2023. Denn die Ukraine ist Opfer einer Aggression durch Russland und hat das Recht, Vergeltung an militärischen Einrichtungen des Aggressorlandes zu üben.“
Weitere Infos hier: posledneeslovo.com/en/