„Ich habe mich bei meinen Gegnerinnen sehr viel wohler gefühlt als bei früheren Turnieren unter Männern, und ich habe einen sehr großen Anstieg meiner Spielstärke erlebt“: Bei den Deutschen Jugend-Einzelmeisterschaften im Schach hat in der Altersklasse U18 weiblich mit Nora Heidemann aus Spenge erstmals eine trans-Frau den Titel gewonnen. Die 17-Jährige holte 7,5 Punkte aus neun Partien und setzte sich gegen 27 Konkurrentinnen durch – obwohl sie nicht zum Favoritenkreis zählte.
Die 17-jährige Schachspielerin Nora Heidemann hat im letzten Monat überraschend die Deutsche U18-Meisterschaft der Mädchen gewonnen.
Foto: Heinz-Jürgen Reiß
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Bereits während des Turniers erfährt Nora Heidemann Hass im Netz
Ob mediale Aufmerksamkeit oder solche von rechten Parteien: Neben der Freude über den überraschenden Sieg gibt es eben auch die Schattenseiten des Erfolgs. U18-Meisterin Nora Heidemann, die seit ihrem siebten Lebensjahr Schach spielt und sich im letzten Jahr als trans outete, sieht sich aktuell zahlreichen Anfeindungen im Netz ausgesetzt. Dazu kommt: Schon während des Turniers musste sie teils ablehnende, teils stark beleidigende Kommentare bei Instagram, Facebook und Co. über sich ergehen lassen.
So soll es laut dem Online-Schachmagazin „Perlen vom Bodensee“ in den E-Mail-Zirkeln des organisierten Schachs während der deutschen Mädchenmeisterschaft nicht um Schach, sondern um das Entfernen von Geschlechtsorganen, „Beleidigung“ der anderen Teilnehmerinnen durch bloßes Mitspielen und „Männer, die in der Männerwelt nicht zurechtkommen“ gegangen sein.
Böswillige Kommentare musste die 17-Jährige während der deutschen Mädchenmeisterschaft über sich ergehen lassen.
Foto: Heinz-Jürgen Reiß
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„Über einen Freiplatz war ich zu Turnierbeginn nur an Rang 10 gesetzt“, erzählt die Oberstufenschülerin. Der Hintergrund: Da die Umstellung ihres Personalausweises erst im Frühjahr dieses Jahres erfolgen konnte, war eine Qualifizierung für die Mädchenmeisterschaft nicht mehr möglich. Dank eines spät erteilten Freiplatzes konnte sie schließlich dennoch teilnehmen.
So holte sich Nora Heidemann den Sieg bei der U18-Schachmeisterschaft
Nach Angaben von Sylvia Heidemann zeigte ihre Tochter von der ersten Runde an eine starke Dominanz: „Nora führte das Feld über das gesamte Turnier an und gab diesen Platz bis zum Turnierende nicht mehr ab“, erinnert sie sich. Das Besondere: „Sie zeigte als die nominell Schwächere ein starkes Spiel und bezwang überraschend ihre Konkurrentin aus Kiel.“
Dabei war die mehrtägige Meisterschaft an Dramatik offenbar kaum zu überbieten: „Der Druck, der auf Nora lastete, war so groß, dass sie in eine Verluststellung geriet, die sie am Ende der letzten Partie aber noch in ein Remis retten konnte“, erzählt Sylvia Heidemann weiter, die ihre Tochter sowohl beim Schach als auch bei ihrer Entscheidung, offiziell als Mädchen zu leben, unterstützt.
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Mit Nora Heidemann hat zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen Schachjugendmeisterschaften ein trans-Mädchen eine Meisterschaft gewonnen: „Und das, obwohl ich weit hinter den Favoritinnen des Turniers gesetzt worden war“, sagt sie stolz. Hinzu kommt: Diese starke Leistung ist um so überraschender, als sie in jungen Jahren mit ihrem Heimatverein ausschließlich im Breitensport beheimatet war und erst spät das Schach als Leistungssport für sich entdeckt hat.
Trans-Frauen im Schach: Eine kontroverse Diskussion
Und doch bleibt für Nora nach dem Wettbewerb ein bitterer Nachgeschmack. Der Grund: Nadja Jussupow, die Vorsitzende der deutschen Frauenschachkommission, äußerte sich jüngst in einem „Welt“-Interview negativ über die Entscheidung der Deutschen Schachjugend (DSJ), sie überhaupt zuzulassen. „Und das, obwohl die Freiplatzverteilung ausschließlich aufgrund von Leistung erfolgte, wie der DSJ immer wieder klarstellte“, so Noras Mutter.
Doch damit nicht genug: Jussupow will, dass nur trans-Frauen, die sich bereits einer Geschlechtsangleichung unterzogen haben, bei Frauen-Turnieren teilnehmen dürfen. Sie fürchtet, dass sonst viele Jungen und Männern strategisch beim Mädchen- und Frauenschachsport teilnehmen würden.
„Das ist einfach nur lächerlich“, findet Gewinnerin Nora. „Mein Coming-out im letzten Jahr war ein Befreiungsschlag.“ Ihre Mutter stellt zudem klar, dass mit der Namens- und Geschlechtsänderung sehr viel mehr verbunden ist: „Ich möchte den 13- bis 18-jährigen cis-Jungen sehen, der sich in der Schule von Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrkräften mit einem weiblichen Vornamen anreden lässt, die Mädchentoilette und Damenumkleide benutzt und dies mit Stolz und Handtasche schafft.“ Als cis bezeichnet man Menschen, die sich mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren.
„Mein Coming-out im letzten Jahr war ein Befreiungsschlag.“
Nora Heidemann
Schachspielerin
Prominente Unterstützung erhält Jussupow laut Sylvia Heidemann derweil von Elisabeth Pähtz: Die langjährige Nationalspielerin und Großmeisterin fordert eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung zu der Frage, ob es nachweisbare Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern im Denksport Schach gibt.
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Für die neue deutsche U18-Schachmeisterin Nora und ihre Mutter Sylvia Heidemann stellt sich nach dem überraschenden Sieg die Frage, ob nicht vor allem verletzte Eitelkeiten eine Rolle spielen und auch, ob es die Diskussion überhaupt gegeben hätte, wenn die 17-Jährige nur den zu erwarten gewesenen Rang erreicht und nicht gewonnen hätte.
Unterstützung für Nora Heidemann von einem Weggefährten
„Ich freue mich riesig über den Titel“, sagt Hermann Dieckmann, er kennt Nora seit zehn Jahren. Der Vorsitzende der Schachgemeinschaft Hücker-Aschen, der Nora unter anderem angehört, sieht unterdessen ihre spezielle Begabung, eine unorthodoxe Spielweise, Fleiß und das langjährige Training als Gründe für den jüngsten Erfolg bei den Meisterschaften der Mädchen.
Eine besondere Begabung im Schach wird Nora Heidemann nachgesagt.
Symbolfoto: Unsplash/sk
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Er sagt zudem: „Nora hat im Schach im Laufe der Jahre eine tolle Entwicklung gemacht. Ich finde es nicht fair, auf einem so jungen Menschen, der diesen Weg mit Unterstützung seiner Familie geht, herumzuhacken.“ Seiner Ansicht nach sind die aktuellen Vorgänge Interessen-gesteuert. Außerdem betont er: „Der Deutsche Schachbund steht hinter Nora und hält die aktuelle Debatte nicht einmal für diskussionswürdig.“
Nora Heidemann hat eine Forderung
Auch wenn sich die Frage nach dem Grund für die Diskussion um ihre Person nicht abschließend klären lässt, wird Nora ihren sportlichen Weg unbeirrt weitergehen: „Ich werde an den Europameisterschaften im Oktober in Montenegro teilnehmen und im kommenden Jahr meinen Titel verteidigen“, gibt sich die junge Spengerin selbstbewusst. Außerdem hat sie einen großen Wunsch: „Dass die Verantwortlichen die Regeln im Schach an das 21. Jahrhundert anpassen.“
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