Erstmals seit Kriegsbeginn haben russische Soldaten die Grenze zur Oblast Dnipropetrowsk erreicht. Das hat vor allem propagandistische Bedeutung. Für das Kriegsgeschehen sind andere Entwicklungen an der Front wichtiger.
In der ukrainischen Oblast Donezk im Donbass finden zurzeit die heftigsten Kämpfe statt.
Vitalii Nosach / EPA
Entlang der Frontlinie in der Ukraine liegt die sogenannte graue Zone. So bezeichnet man im Krieg jene Gebiete, die umkämpft, aber von keiner Seite effektiv beherrscht werden. Die allgegenwärtigen Drohnen, die für vorrückende Einheiten eine ständige Gefahr darstellen und deshalb die allermeisten Vorstösse scheitern lassen, haben dafür gesorgt, dass sich dieses Niemandsland ausgeweitet hat. Naturgemäss tendieren jeweils beide Kriegsparteien dazu, trotz volatiler Lage die Kontrolle über ein umkämpftes Gebiet für sich zu beanspruchen.
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Strategisch irrelevant
Besonders intensiv wurde jüngst über das Kriegsgeschehen beim Ort Datschne gestritten. Vergangene Woche mehrten sich in den sozialen Netzwerken Meldungen über eine russische Einnahme des kleinen Ortes. Auch russische Exilmedien wie «Medusa» nahmen die Berichte auf. Ukrainische Militärblogger und später auch der Generalstab dementierten. Zwar soll es russischen Soldaten gelungen sein, im Ort eine russische Flagge zu hissen. Kurz darauf seien die Angreifer aber unter Beschuss genommen und getötet worden. Die konkrete Lage vor Ort ist unklar.
Die Plattform Deepstatemap, die den Kriegsverlauf minuziös nachzeichnet, zählt Datschne noch zum ukrainisch kontrollierten Gebiet. Andere Quellen für den Frontverlauf sehen den Ort bereits unter russischer Kontrolle. Unbestritten ist, dass in der Region gekämpft wird. Am Freitag etwa meldete der ukrainische Generalstab erneut Feuergefechte und russische Luftangriffe.
Mit der strategischen Bedeutung von Datschne lässt sich all das nicht erklären. Aus militärischer Sicht ist das kleine Dorf am Flüsschen Wowtscha nicht sonderlich relevant. Auf symbolischer und dadurch propagandistischer Ebene sieht es allerdings anders aus.
Nicht Teil des «annektierten» Gebiets
Datschne wäre der erste Ort in der Oblast Dnipropetrowsk, der unter russische Kontrolle geriete. Seit Beginn des Krieges sind russische Soldaten noch nie in diese Region vorgestossen. Anders als die angrenzenden Oblaste Donezk, Saporischja und Cherson – sowie Luhansk und die Krim – hat Russland das Gebiet auch nicht mittels eines Scheinreferendums annektiert und erhebt keinen offiziellen Anspruch auf dessen Territorium. Das verleiht einem Vorstoss über die Oblast-Grenze durchaus Bedeutung. Hat Putin nicht erst kürzlich gesagt, dass alles, wo der russische Soldat seinen Fuss hinsetze, zu Russland gehöre?
Allerdings kämpfen die Russen auch anderswo in der Ukraine in Gebieten, die sie nicht als Teil ihres Staatsgebiets betrachten, bei Sumi etwa und bei Charkiw. Ohnehin gehen die russischen Kriegsziele über die offiziell annektierten Territorien im Osten und im Süden des Landes hinaus. Dennoch sind die ukrainischen Binnengrenzen für das Kriegsgeschehen nicht völlig unbedeutend.
Bereits im Frühjahr war die Rede von russischen Plänen, an die Grenze der Oblast Dnipropetrowsk vorzustossen. Ukrainische Militärbeobachter erklärten das mit Putins Wunsch, zum symbolisch aufgeladenen Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai einen Erfolg in der Ukraine präsentieren zu können. Das angekündigte Vorhaben, bis zum Feiertag das gesamte Territorium aller annektierten Regionen zu «befreien», also russisch zu besetzen, war allerdings immer illusorisch. Bis anhin befindet sich nur die Krim vollständig unter russischer Kontrolle.
Symbolträchtige Erfolgsmeldung
Auch mit Blick auf Datschne spricht man in der Ukraine von einem Ablenkungsmanöver. Serhi Kusan vom Ukrainian Security and Cooperation Center in Kiew etwa stellte die Meldungen zum Vorstoss bei Datschne in einem Fernsehinterview mit der Offensive bei Sumi in Zusammenhang. Weil die russischen Truppen im Norden kaum noch vorrückten, würden armeenahe Kreise in Russland nun eine symbolträchtige Erfolgsmeldung aus einem anderen Frontabschnitt propagieren.
Dasselbe gelte für den vermeintlichen Meilenstein, den die Russen in Luhansk erreicht haben wollen. Ende Juni erklärte der Chef der dortigen russischen Verwaltung, Leonid Pasetschnik, dass sich nun das gesamte Territorium seiner Region unter russischer Kontrolle befinde. Allerdings widersprachen kurz darauf selbst russische Militärblogger dieser Aussage.
Russland kontrolliert zwar bereits seit vergangenem November 99 Prozent der Oblast Luhansk. Den verbleibenden Zipfel hat es seither aber immer noch nicht unter seine Kontrolle gebracht. Die Ukraine hält weiterhin zwei Dörfer westlich von Swatowe sowie ein kleines Wäldchen etwas weiter südlich.
Russische Sommeroffensive
Russland überzeichnet seine Erfolge auf dem Schlachtfeld. Am beharrlichen, wenn auch langsamen und enorm verlustreichen russischen Vorrücken an anderen Frontabschnitten ändert das jedoch nichts.
Die Stadt Torezk befindet sich mittlerweile weitgehend unter russischer Kontrolle. Die Verteidigung von Pokrowsk und Kostjantiniwka ist seit der russischen Einnahme eines Abschnitts der Verbindungsstrasse zwischen den beiden wichtigen Städten deutlich schwieriger geworden. Beiden Orten droht die Umzingelung. Auch bei Kupjansk, im Osten von Charkiw, haben die Russen kürzlich Geländegewinne gemacht.
Hinzu kommt der allnächtliche Beschuss ukrainischer Städte, der auch in der Nacht auf Sonntag wieder Tote und Verletzte forderte. Am Freitag hatte Russland beim bisher umfangreichsten Angriff seit Kriegsbeginn 550 Drohnen und Raketen auf Ziele in der Ukraine losgeschickt. Gleichzeitig haben die USA vergangene Woche eine Aussetzung ihrer Waffenlieferungen angekündigt. Die Ukraine steht in vieler Hinsicht unter Druck. Ob die Russen die Grenze der Region Dnipropetrowsk erreicht oder bereits überschritten haben, ist dabei zweitrangig.