Der britische Politiker, Schriftsteller und in den USA lehrende Professor trat gegen Boris Johnson an. Er fordert mutigere Parteien, die das Feld nicht den Populisten überlassen, und wirbt für eine enge Anbindung Grossbritanniens an eine flexiblere EU.
In Churchills Fussstapfen: Für den britischen Politiker, Philosoph und Schriftsteller Rory Stewart ist es höchste Zeit, dass Europa zusammenrückt.
David Levenson / Getty
Sein Englisch ist very British und seine Karriere so ungewöhnlich, wie man es wohl nur von einem herausragenden Vertreter der British Upper Class erwarten kann. Roderick (Rory) James Nugent Stewart wurde 1973 in der damals noch britischen Kronkolonie Hongkong als Sohn eines britischen Diplomaten geboren. Er wuchs in Hongkong, London und Malaysia auf, bevor er als Achtjähriger in ein Internat in Oxford und dann ans College in Eton geschickt wurde. An der Universität Oxford studierte er mittelalterliche Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaften und Wirtschaft. Dann trat er selbst in den diplomatischen Dienst ein. Das war ihm aber nicht genug. Zur Jahrtausendwende liess sich Stewart beurlauben, um zwei Jahre lang zu Fuss quer durch Iran, Pakistan, Indien, Nepal und schliesslich Afghanistan zu wandern und jeweils in Privathäusern zu übernachten. Daraus entstand der «New York Times»-Bestseller «The Places in Between», eines seiner bisher vier Bücher.
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Nach dem Irakkrieg arbeitete Stewart in der provisorischen Verwaltung im Irak. In Kabul in Afghanistan leitete er darauf drei Jahre lang ein von Prinz Charles gegründetes Hilfsprojekt, bevor er nach Grossbritannien zurückkehrte und von 2010 bis 2019 Abgeordneter der konservativen Tory-Partei im britischen Unterhaus war. Ab 2015 bekleidete er verschiedene Ministerämter in den Regierungen von David Cameron und Theresa May. Stewart warb für einen weichen Brexit und war nach dem Abgang von May einer der führenden Kandidaten für das Amt des Premierministers. Als er Boris Johnson unterlag, trat er aus der Tory-Partei aus und verabschiedete sich aus der Politik. Seither unterrichtet er als Professor an der amerikanischen Yale-Universität und ist zusammen mit Alastair Campbell Host des populären Podcasts «The Rest is Politics», der jüngst der Frage nachging, wer der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance wirklich ist. Im Gespräch am Swiss Economic Forum beklagte Rory Stewart, dass es den europäischen Politikern an Mut zu echten Veränderungen fehle, und er entwarf seine Vision eines wettbewerbsfähigen Europa, das sich nicht mehr auf die USA verlassen kann.
Sie diagnostizieren fundamentale Veränderungen in unserer Welt. Was ist denn in den vergangenen Jahren derart anders geworden?
Wir sind gewissermassen in eine Schattenwelt eingetreten. Die vier zentralen Prinzipien der 1990er und frühen 2000er Jahre – liberale Demokratie, Freihandel, eine regelbasierte internationale Ordnung und eine gemässigte politische Mitte –, all das hat sich umgekehrt.
Das klingt sehr ineffizient. Warum glauben Sie, dass dieses neue Modell Bestand haben sollte?
Weil viele Wähler das alte Modell als gescheitert empfunden haben. Die Idee von Fukuyama – dass die Geschichte zu Ende sei und wir alle wie Dänemark würden – hat für viele nicht funktioniert. Einige sahen zwar Wirtschaftswachstum, aber ihre eigenen Einkommen stagnierten. Andere fühlten sich durch die Migration überfordert. Und wieder andere verloren das Vertrauen in die Eliten, die Kriege wie im Irak und in Afghanistan verantworteten. All das schuf Raum für Populisten, die sagen konnten: «Das ist ein Desaster. Ich räume auf.»
Aber warum entstehen denn keine neuen Margaret Thatchers – Politikerinnen oder Politiker mit besseren Antworten als Protektionismus?
Weil das frühere Rezept – Privatisierung, Deregulierung, Globalisierung – ebenfalls überschätzt war. Die Gewinner, wie die Schweiz oder Skandinavien, haben eben gerade nicht vollständig dereguliert. In der Schweiz gehört die Bahn noch dem Staat – und sie funktioniert. Die tieferen Löhne sind hoch, man kann als Handwerker gut leben. Ich habe Anfang des Jahres drei Monate in Davos verbracht – selbst Bauarbeiter verdienen dort 35 Euro die Stunde. So etwas ist in ländlichen Regionen Grossbritanniens undenkbar.
Was bedeutet das für Europa? Bewegen wir uns auf ein skandinavisches Modell zu?
Europa steht meiner Ansicht nach vor zwei zentralen Herausforderungen: Erstens muss es eine glaubwürdige Migrations- und Asylpolitik entwickeln. Dazu gehören auch eine Reform der europäischen Asylregelungen und ein anderer Umgang mit der Migration. Wenn wir das nicht schaffen, werden die populistischen Parteien weiter erstarken. Zweitens: Europa muss kreativer werden im Umgang mit seinen Rändern – mit Grossbritannien, Norwegen, der Türkei, mit Serbien und Georgien. Seit dem Vertrag von Lissabon 2006 ist Europa in dieser Hinsicht stehengeblieben.
Sehen Sie den Aufstieg des Rechtspopulisten Nigel Farage in Grossbritannien als Ausdruck ebenjener Krise des Establishments?
Ja, die Tories stecken in ernsten Schwierigkeiten. Wenn heute Wahltag wäre, würden sie verlieren – ähnlich wie die französischen Konservativen, die von Le Pen überrollt wurden. Die Partei hat nichts mehr zu bieten, was Farage nicht radikaler formuliert.
Die etablierten Parteien täten gut daran, engagierter zu erklären, wieso sie bessere Antworten auf drängende Probleme haben als die rechts- oder linksradikalen Nationalisten.
Genau. Sie brauchen erstens eine klare Einwanderungspolitik, zweitens eine glaubwürdige Strategie für Wachstum und drittens den Nachweis von Kompetenz. Und nicht zuletzt brauchen sie auch die Energie, wirklich etwas zu bewegen. Die alten Parteien wirken ideenlos und ausgelaugt – das öffnet Raum für Leute wie Donald Trump oder Elon Musk, die mit Tempo und Entschlossenheit auftreten. Die Mitte darf nicht so tun, als sei alles in Ordnung – sie muss das Gefühl vermitteln: Wir handeln jetzt.
Das Chaos, das jetzt in den USA herrscht, müsste den etablierten Mitteparteien doch eigentlich in die Hände spielen.
In Australien und Kanada hat das tatsächlich die eher sozialistischen Zentrumsparteien gestärkt. Aber in Europa funktioniert das im Moment noch nicht – nicht in Deutschland, nicht in den Niederlanden, nicht in Portugal, Grossbritannien oder Frankreich.
In Grossbritannien ist mit Keir Starmer gerade wieder eine linksliberale Zentrumspartei an der Macht. Wird sie Grossbritannien wieder näher an Europa heranführen?
Starmer möchte es, aber er ist zu vorsichtig, zu wenig kreativ. Er fürchtet die Brexit-Wählerschaft im Nordosten Englands. Dabei sollte Grossbritannien meiner Ansicht nach sofort der EU-Zollunion beitreten und sich wieder in den europäischen Binnenmarkt integrieren.
Aber sie selber haben doch in einer Tory-Regierung als Minister gewirkt, die für den Brexit war.
Ich habe für «Remain» gestimmt. Nach dem Referendum war ich für einen sehr weichen Brexit – für den Verbleib in der Zollunion und für eine enge Zusammenarbeit. Das war auch der Grund, warum ich dann Boris Johnsons Regierung verlassen habe.
Europa ist seit längerem wirtschaftlich relativ stark, aber politisch schwach.
Das Hauptproblem scheint mir, dass Europas Spitzenpolitiker aneinander vorbeireden; es fehlt an einer gemeinsamen Vision. Macron hält philosophische Reden, Merz spricht über die Kontrolle des Asylwesens, Starmer ist nicht wirklich bereit, sich zu verpflichten, andere ducken sich weg.
Europa braucht eine neue Vision?
Europa braucht eine praktische Vision – konkrete, erreichbare Ziele statt bloss grossspurige Rhetorik. Jean Monnet hat das in den 1950er Jahren vorgemacht: Ein gemeinsames Europa muss man Schritt für Schritt entwickeln, mit realistischen Etappen.
An was denken Sie?
Zum Beispiel an eine gemeinsame Migrationspolitik. Man sollte dem Schengen-Abkommen Sorge tragen, muss dafür aber die Grenzkontrollen an den Aussengrenzen viel stärker ausgestalten. Das Asylsystem muss grundsätzlich reformiert werden. Die Rückführung in sichere Drittstaaten muss möglich sein, wie beim EU-Türkei-Abkommen. Es war erfolgreich – aber Europa hat den Mut verloren, diesen Weg weiterzugehen.
Sehen Sie gemeinsame Interessen von Grossbritannien und der Schweiz, ihr Verhältnis zum Projekt Europa und zueinander neu zu denken?
Unbedingt. Mit der EU sind die Zollunion und der Binnenmarkt zentral. Im bilateralen Verhältnis zwischen Grossbritannien und der Schweiz muss man vielleicht nicht gleich von Binnenmarkt und Zollunion sprechen, aber es geht darum, möglichst eng integriert zu sein. Wir müssen an einem wirtschaftlich integrierten Europa bauen, das auch Staaten integriert, die nicht gleich Vollmitglieder werden können. Die Staaten im Westbalkan oder in Georgien versuchen schon jahrelang vergeblich, EU-Mitglieder zu werden. Ich sage: Holt sie in den gemeinsamen Markt – ohne dass sie gleich Vollmitglieder der EU werden müssen. Aber das braucht Mut. Und man sollte konkret werden und Zieldaten setzen: Wann erhält Serbien vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt?
Und was ist mit der gemeinsamen Verteidigung?
Das ist ein anderes grosses Thema, bei dem viel Zeit mit lächerlichem Hin und Her vergeudet wird. Das Vereinigte Königreich hätte längst viel mehr und engere Verteidigungskooperationen mit der EU aufbauen sollen. Stattdessen blockiert Frankreich ein Abkommen – wegen Fischereirechten. Und Grossbritannien kauft derweil weitere zwanzig Kampfjets von den USA. Das ist doch irrsinnig! Enorme Möglichkeiten, endlich eine koordinierte europäische Rüstungsindustrie und -politik aufzubauen, werden so verpasst.
Sie glauben nicht an die Zukunft der transatlantischen militärischen Partnerschaft?
Es tut mir leid, aber meiner Ansicht nach müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sich die USA fundamental verändert haben. Vielen Wählern und Politikern ist Europa egal. Sie glauben nicht mehr an die transatlantische Partnerschaft und wollen sich nicht mehr engagieren – weder in Europa noch sonst wo. Es bringt nichts, an eine Partnerschaft zu glauben, wenn sie von der anderen Seite nicht mehr gewollt wird.