AboKatholische Privatschulen –
Sadistische Lehrer missbrauchten Kinder: Skandal erschüttert Frankreich
An katholischen Schulen sollen landesweit Buben und Mädchen erniedrigt, gefoltert und vergewaltigt worden sein. Marine Le Pen extreme Rechte sieht in der Untersuchung einen woken Kreuzzug.
Publiziert heute um 13:46 Uhr
Der Auslöser: Die Schule Notre-Dame de Bétharram bei Pau im Südwesten Frankreichs steht im Zentrum des Skandals.
Foto: Gaizka Iroz (AFP)
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In Frankreich spricht man jetzt vom Ende der «Omertà», wie man das Gesetz des Schweigens bei der Mafia nennt. Nur dass die abgründige Welt, die da während Jahrzehnten versteckt worden war, eine heile sein sollte, die heilste überhaupt, die Welt der Kinder: die Schule.
Aus dem 330 Seiten langen und reich dokumentierten Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission geht hervor, dass vor allem an katholischen Privatschulen im Land Minderjährige zum Teil «systematisch» missbraucht worden sind. Mit Schlägen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen, mit Erniedrigungen, mit Folter. Im Bericht liest man von «Fusstritten in den Hals», von «Köpfen, die so lange auf die Schulbank geschlagen wurden, bis die Hefte voller Blut waren», von «gebrochenen Nasen, ausgekugelten Schultern, ausgerenkten Kiefern».
Der Staat schaute weg, wenn sich Opfer meldeten
Am meisten betroffen waren ausgerechnet die Verletzlichsten unter den Schülerinnen und Schülern. Jene etwa, die aus ärmeren Familien stammten, solche mit Lernproblemen, Behinderte und sozial Ausgegrenzte, die Jüngeren mehr als die Älteren. Oft war es also so, dass die Zerbrechlichsten von den Erwachsenen, die sie begleiten und fördern sollten, ganz gebrochen wurden. Von Geistlichen, von Laien. Und der Staat? Er schaute nicht hin. Er hörte weg, wenn sich Opfer meldeten.
Bis jetzt. Nach #MeToo in der französischen Kulturszene und den sexuellen Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche Frankreichs zerren diese erschütternden Erkenntnisse aus der Schulwelt ein weiteres Tabuthema in die grosse Öffentlichkeit. Frankreichs Justizminister Gérald Darmanin sagte es bei einem Auftritt am Fernsehen so: «Der Staat hat auf allen Ebenen versagt, er hat die Kinder der Republik nicht geschützt.» Was man jetzt wisse, sei nur ein kleiner Teil, da komme noch viel mehr.
Die Rapporteure: Violette Spillebout von der Regierungspartei Renaissance und Paul Vannier von der linken Oppositionspartei La France insoumise mit ihrem Bericht.
Foto: AFP
Etwa ein Fünftel der französischen Kinder geht in katholische Privatschulen. 7500 davon gibt es im ganzen Land. Sie bilden eine Welt für sich, gestützt wird die von einer starken, politisch einflussreichen Lobby. Die katholischen Schulen verstehen sich als weitgehend autonom, obschon sie dank eines günstigen Abkommens zu 70 Prozent vom Staat finanziert werden. Im Gegenzug müssten sie den pädagogischen Vorsätzen aus dem Erziehungsministerium genügen. Aber tun sie das auch?
Ausgelöst wurde die Untersuchung durch die sogenannte «Affäre Bétharram». So, Notre-Dame de Bétharram, heisst eine katholische Privatschule bei Pau im Südwesten Frankreichs, gegründet 1837. Sie war einmal angesehen, eine Eliteschmiede mit Internat, streng geführt. Die reichen Familien aus der Region schickten ihre Sprösslinge dahin.
Die Zungen lösten sich, Tausende Opfer meldeten sich
Auch die Kinder des amtierenden Premierministers Frankreichs, des Christdemokraten François Bayrou, gingen in Bétharram zur Schule. Seine Frau unterrichtete da den Katechismus, man ist sehr katholisch. Bayrou ist der mächtigste Politiker in der Gegend, er ist auch Bürgermeister von Pau.
Das alles ist wichtig in diesem Fall, die Personalie machte aus der Missbrauchsaffäre auch eine politische Affäre. Im vergangenen Jahr enthüllte das Investigativportal «Mediapart» den Missbrauchsskandal von Bétharram und zeigte dabei auf, wie fragwürdig Bayrou agierte, als er in den 1990er-Jahren französischer Erziehungsminister war. Konnte es sein, dass er nichts wusste vom Gewaltexzess an der Schule, wie er das behauptete? Oder deckte er die Schule?
Der Premier: Frankreichs amtierender Regierungschef François Bayrou hatte alle seine Kinder in die Schule in Bétharram geschickt. Kann es sein, dass er nichts wusste?
Foto: AFP
So entschied sich das Parlament für eine Untersuchung. Es löste damit einen Sog aus: Mehr als 200 ehemalige Schüler von Bétharram nahmen ihren Mut zusammen und erzählten vom Horror, den sie da erlebt hatten. In Bétharram mussten Kinder zur Strafe auch mal eine Nacht draussen verbringen, stehend auf der Vortreppe der Schule, nur mit einer Unterhose bekleidet – selbst im Winter. Die Kommission erhielt Tausende Zeugnisse aus anderen katholischen Schulen im Land. Die beschriebenen Zustände waren überall ähnlich.
Einer der Rapporteure, der linke Abgeordnete Paul Vannier, sagte bei der Vorstellung der Studie, dass ihn die monatelange Arbeit in dieser Kommission für immer gezeichnet und verändert habe, als Mensch und als Politiker: «Ich konnte mir ja vieles vorstellen: verbale Gewalt, psychologische Gewalt, physische Gewalt, sexuelle Gewalt. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kinder in der Schule gefoltert würden, dass ihnen Wasser gespritzt wird, dass man ihnen Schlaf und Nahrung entzieht – ein unendlich sadistisches Spiel.»
Die Rechte zettelt einen Kulturkampf an – als wäre die Gewalt Folklore
Die Kommission schlägt fünfzig Massnahmen vor, um die Kinder in Zukunft besser zu schützen. So soll es unter anderem bald eine neue Plattform für die Meldung von Missbrauchsfällen geben und einen konsequenteren Umgang damit. Bisher ist es nämlich so, dass Hinweise nur selten Folgen haben, dass Lehrpersonen kaum je suspendiert werden, gerade in den Privatschulen. Es soll jetzt mehr Inspektionen geben. Die Internate sollen jedes Jahr von neuem kontrolliert werden, sie sind die problematischsten Orte. Von den 7500 Privatschulen in Frankreich sind in den vergangenen sechs Jahren nur zwölf vom Staat inspiziert worden.
Es soll nun auch eine Debatte im Parlament darüber geben, ob gewisse Verbrechen gegen Minderjährige nicht mehr verjähren können, etwa solche, wie sie nun in grosser Zahl bekannt werden. Das wäre eine strafrechtliche Revolution, denn bisher haben in Frankreich nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen keine Verjährungsfrist. So soll verhindert werden, dass mutmassliche Verbrecher wie der frühere Zuchtmeister von Bétharram, den sie «das Pferd» nannten, trotz hundert Anzeigen von der Justiz nie verfolgt wurde – alles verjährt.
Man könnte denken, dass die «Monstrositäten», wie die Kommission die Gewalt beschreibt, das Land zusammenbringen würden, auch die Politik. Schliesslich geht es um die Kinder. Stattdessen wird gestritten. Die extreme Rechte wirft der Untersuchungskommission vor, sie befeuere den alten Kulturkampf zwischen öffentlicher und privater Schule, sie schwärze die katholischen Schulen ungebührlich an, aus ideologischen Gründen. Und das Wohl der Kinder droht im Nebel des Kulturkampfs wieder zu verschwinden.
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