Grenze. Welche Grenze? Die ersten Kinder, die im Jahr 2007 in Frankfurt (Oder) oder Słubice zur Welt gekommen sind, dürften mittlerweile volljährig sein. 18 Jahre lang wuchsen sie in einer grenzenlosen Doppelstadt auf. Ein Gang über die Brücke, schwups war man in Polen. Ein Gang zurück, schwups wieder in Deutschland. Alltag in einer europäischen Grenzregion, der in der Nacht von Sonntag auf Montag jäh unterbrochen wurde.

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Erstmals seit dem Beitritt Polens zum Schengen-Raum im Dezember 2007 wird auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze wieder kontrolliert. Pünktlich um Mitternacht zog der polnische Grenzschutz an dutzenden Übergängen zwischen Polen und Brandenburg auf. Die Maßnahme war vergangene Woche von der polnischen Regierung verkündet worden und wird als direkte Gegenreaktion auf die Grenzkontrollen der deutschen Seite interpretiert, die seit Mai nochmal intensiviert wurden.

Die Stadtbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice wurde erst vor ein paar Tagen mit neuen Flaggen ausgestattet. Auf beiden Seiten der Überquerung wehen die Farben Europas mit den prägnanten gelben Sternen. Słubice feierte gerade sein jährliches Stadtfest, kommendes Wochenende ist Frankfurt an der Reihe. Am Mittwoch findet der „Lauf ohne Grenzen“ statt, eine Sportveranstaltung, die sich wie selbstverständlich auf beide Seiten der Oder erstreckt.

Die Kontrollen treffen vor allem migrantische Menschen

All das fühlt sich am Montagmittag auf der polnischen Seite der Stadtbrücke fremd und weit weg an. Polnische Polizei und Grenzschutz-Beamte haben sich auf der Fahrbahn positioniert. Eine junge Beamtin hat die Hoheit über die Kelle, die meisten Fahrzeuge werden durchgewunken.

Neue Realität: Am Grenzübergang an der Oder wird wieder kontrolliert.

© AFP/WOJTEK RADWANSKI

Wenn die Kelle dann doch mal zum Einsatz kommt, trifft es fast ausschließlich Menschen mit migrantischem Aussehen. Autos mit Berliner Kennzeichen, in denen Kopftuch getragen wird. Oder Passanten, die über die Brücke aus Deutschland kommen und keine weiße Hautfarbe haben.

Aufmerksam beobachtet wird das Geschehen von der Fraktion Gelbweste. Mitglieder einer rechtsextremen polnischen Grenzschutzbewegung, die sich in den vergangenen Wochen an verschiedenen Orten entlang der Grenze, als eine Art Bürgerwehr aufspielten. Einer der Männer trägt eine Kopfbedeckung, die ihn als Trump-Fan outet. Die Einführung der polnischen Grenzkontrollen werten sie als ihren persönlichen Erfolg.

Immer wieder Zwischenfälle mit Bürgerwehr

In den vergangenen Wochen war es immer wieder zu Zwischenfällen mit den selbst ernannten Ordnungshütern gekommen. Teilweise spielten sie sich als Grenzschützer auf und kontrollierten Pässe. Diese Aufgabe wurde nun von den offiziellen Kräften übernommen, ihre neue Existenzgrundlage scheint nun darin zu liegen, die Arbeit des polnischen Grenzschutzes zu überwachen.

Von einem „traurigen Anblick“ spricht währenddessen Tomasz Stefanski, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Słubice, in der „Märkischen Oderzeitung“. Es fühle sich für ihn an, als würde „alles das, wofür wir jahrelang gekämpft haben – Polens Beitritt zur EU, die Erweiterung des Schengen-Raums – ein Stück weit zunichtegemacht“, zitiert ihn die Zeitung.

„Wir haben hier keine Migrationskrise“, so Tomasz Stefanski. Erzählungen der rechtsextremen Szene um die neu gegründete Bürgerwehr hätten letztlich zur Einführung der Kontrollen geführt. „Sie haben auf zynische Weise die Grenze für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisiert und Angst sowie fremdenfeindliche Stimmungen geschürt“.

Wir haben hier keine Migrationskrise

Tomasz Stefanski, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Słubice 

Ähnlich sieht das Jan Augustyniak, der sich mit zwei Mitstreitern der Initiative „Frankfurt bleibt bunt“ auf der anderen Straßenseite positioniert hat. Sie haben Schilder mitgebracht, ein kleiner spontaner Protest gegen die Maßnahmen auf beiden Seiten. „Die Zukunft liegt nicht in Abschottung“, steht auf einem der Plakate.

Wenn man Augustyniak fragt, woher er kommt, sagt er „Ich bin Doppelstädter“. Für die Linken sitzt er im Frankfurter Stadtrat, vor ein paar Tagen hat er ein Haus am Słubicer Kreisel direkt gegenüber der Stadtbrücke mit einem legalen Graffiti verschönert. „Wie undicht sind doch die Grenzen menschlicher Staaten!“, steht dort nun auf einer Fassade direkt gegenüber der Brücke.

Vorne wird kontrolliert, hinten demonstriert.

© Julius Geiler

„Die Idee Europas wird mit diesen Maßnahmen hier zerstört“, sagt Augustyniak. Er spricht von einem „Sargnagel“ für Schengen. Neue europäische Strenge, die auch die Europa-Universität Viadrina vor Herausforderungen stellt. Einige Seminare und Veranstaltungen finden auf polnischer Seite statt, in einem internationalen Studiengang kommen schätzungsweise 80 Prozent aller Studierenden aus dem Ausland.

Schon mit Beginn der deutschen Kontrollen schrieb das Viadrina-Präsidum eine Rundmail an alle Studierenden, mit der Bitte, sich bei möglichen Diskriminierungen bei den Kontrollen zu melden. Tatsächlich kam es schon zu Vorfällen, berichtet eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Einmal wurden zwei ausländische Studenten der Universität sogar auf der polnischen Seite abgewiesen und mussten den Rückweg antreten.

Erstmals kriselt Polizei-Zusammenarbeit

Doch nicht nur Viadrina-Studierende leiden unter den neuen Maßnahmen, auch die Zusammenarbeit der Deutschen und Polen auf polizeilicher Ebene. Offizielle Vertreter der Bundespolizei sind zwar stets darum bemüht, die Kooperation mit den polnischen Kollegen hervorzuheben, doch auch hier kriselt es an verschiedenen Stellen. So wird nach Aussage der polnischen Polizei die gemeinsame Streife mit den deutschen Kollegen vorerst eingestellt, obwohl diese sich über viele Jahre bewährt hatte. Die Bundespolizei dementiert.

Gleichzeitig belasten Zurückweisungen von Migranten das Verhältnis. So kam es in Guben zu einem Vorfall, bei dem der polnische Grenzschutz die Zurückstellung einer Person nach Polen ablehnte. Dazu kommt der ausgeprägte Hass der rechtsextremen Bürgerwehr auf alles Deutsche, was die Situation zusätzlich befeuert.

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Das befürchtete Verkehrschaos bliebt am Montag vorerst aus, wobei lange Staus in Richtung Berlin auf der Autobahn mittlerweile zum Alltag gehören. So „reibungslos“ lief der Verkehr dann aber doch nicht, wie vom polnischen Innenminister Tomasz Siemoniak kommuniziert.

Zwischenzeitlich kam es auf der Stadtbrücke in Frankfurt zu Verzögerungen durch die polnischen Grenzkontrollen, am Nachmittag wurde der Stau immer länger. Bei anderen Grenzübergängen blieb es vergleichsweise ruhig.

Doch das könnte sich gerade in Richtung Wochenende ändern. Traditionell verschiebt sich dann vor allem die Richtung des Güterverkehrs wieder in Richtung Osten, aus der Wirtschaft werden bereits deutliche Warnungen vor Beeinträchtigungen des transnationalen Handels laut. Es könnte also nicht lange dauern, bis die polnischen Grenzkontrollen tatsächlich lange Blechlawinen auslösen. So wie zuletzt 2007.