»Blindheit, Ignoranz, Vorurteile und Verteidigungshaltung« bei Polizei, Sozialdiensten und lokalen Behörden, die »einfach wegschauten«: So lauten die Anwürfe der Baroness Louise Casey, die Mitte Juni ihren Anfang des Jahres von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Bericht »National Audit on Group-based Child Sexual Exploitation and Abuse« veröffentlichte – eine Bestandsaufnahme des über Jahrzehnte andauernden landesweiten Missbrauchs an Mädchen. Der Bericht attestiert dem britischen Staat systemisches Versagen beim Schutz von über tausend vor allem weißen Minderjährigen aus sozial schwierigen Verhältnissen vor dem organisierten sexuellen Missbrauch durch Männergruppen.
Seinen Anfang nahm der Skandal 2010 in Rotherham, als fünf pakistanischstämmige Männer wegen Sexualdelikten mit minderjährigen Mädchen verurteilt wurden. Seither wurden immer mehr Fälle aufgedeckt und überwiegend Männer pakistanischer Herkunft in dem Zusammenhang verurteilt.
Der Bericht kritisiert ein »Datenvakuum«. In zwei Dritteln der Fälle lägen in Bezug auf die »grooming gangs« keine Informationen über die Herkunft der Täter vor.
Im Zentrum des Berichts steht das Versagen beim Kinderschutz. Mädchen, teilweise erst zehn Jahre alt, von denen viele in der Obhut staatlicher Fürsorge waren, seien von den Institutionen nicht wie Kinder behandelt worden. Sie wurden als mitschuldig an ihrem eigenen Leid angesehen. Zu viele Anklagen wegen Vergewaltigung seien fallengelassen oder heruntergestuft worden, weil man 13jährigen unterstellte, sie hätten dem Missbrauch »zugestimmt« oder seien in ihre erwachsenen Peiniger »verliebt« gewesen. In einigen Fällen wurden die Opfer sogar kriminalisiert, etwa wegen Prostitution, zu der sie gezwungen worden waren.
Der Casey-Bericht deckt damit nichts grundlegend Neues auf. Bereits 2022 erschien ein Regierungsbericht über den Missbrauchsskandal, der zu ähnlichen Schlüssen kam und Empfehlungen abgab, um Kinder besser zu schützen. Diese Empfehlungen wurden jedoch nicht befolgt. Die Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer hatte monatelang eine neue nationale Untersuchung abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, dies sei eine Forderung der extremen Rechten.
Freilich verstanden es diese, den Kindesmissbrauch und das Staatsversagen rassistisch zu instrumentalisieren. Angetrieben wurde diese Entwicklung Anfang 2025 durch den Investor Elon Musk, der auf seiner Plattform X Starmer der »Mitschuld an der Vergewaltigung Britanniens« bezichtigte und eine Ministerin als »Vergewaltigungs-Völkermord-Apologetin« beschimpfte.
Täter pauschal als »pakistanische Vergewaltigungsbanden« bezeichnet
Diese Rhetorik griffen Nigel Farage, der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Reform UK, und der rechtsextreme Aktivist Tommy Robinson auf. Sie behaupteten, dass der Missbrauch eine direkte Folge der Nachkriegseinwanderung sowie des Multikulturalismus sei, und bezeichneten die Täter pauschal als »pakistanische Vergewaltigungsbanden«. Gepaart wurde dies mit der Behauptung einer »Verschwörung des Schweigens«, angetrieben von »politischer Korrektheit« und der Angst der »Eliten«, als rassistisch gebrandmarkt zu werden.
Der Casey-Bericht dagegen moniert vor allem die Geringschätzung, die den Opfern von den Behörden entgegengebracht wird. Kritiker sehen darin eine Form institutioneller Diskriminierung, da vor allem Mädchen aus der Arbeiterklasse nicht die notwendige Hilfe erhielten. Nach dieser Lesart liegt die Ursache des Problems nicht in einer übertriebenen Rücksichtnahme auf ethnische Minderheiten, sondern in der mangelnden Bereitschaft, die Aussagen und das Leid dieser spezifischen Opfergruppe ernst zu nehmen.
Der Bericht kritisiert in diesem Zusammenhang auch ein »Datenvakuum« zur ethnischen Zugehörigkeit von Tätern, das eine faktenbasierte Debatte erschwere. In zwei Dritteln der Fälle lägen in Bezug auf die grooming gangs keine Informationen über die Herkunft der Täter vor, auch wenn in drei der von Casey untersuchten Polizeibezirke festgestellt wurde, dass die Verdächtigen überproportional häufig Männer asiatischer Herkunft waren.
Opferorganisationen zeichnen ein ernüchterndes Bild
Die Labour-Regierung verspricht nun, allen zwölf Empfehlungen des Casey-Berichts sofort und vollständig nachzukommen. Und die sind weitreichend: Es soll eine neue, nationale Untersuchung geben, eine von der National Crime Agency (NCA) geführte Polizeioperation, die die landesweiten Ermittlungen zu sexuellem Missbrauch an Kindern koordinieren soll, sowie eine geplante Gesetzesänderung, nach der penetrativer Sex mit Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren grundsätzlich als Vergewaltigung gelten soll.
Auch sollen zukünftig Daten über die ethnische Herkunft der Täter gesammelt werden. Casey forderte zudem, Asylsuchende mit entsprechenden Vorstrafen zukünftig automatisch abzulehnen. Für eine verbesserte Zusammenarbeit sollen betroffene Kinder zukünftig ein behördenübergreifendes Aktenkennzeichen erhalten. Diese neue Strategie der Labour-Regierung ist wohl auch dem geschuldet, dass der laxe Umgang mit dem Missbrauchsskandal der konservativen Opposition und rechtspopulistischen Akteuren allzu viel Angriffsfläche geboten hat.
Opferorganisationen zeichnen jedoch ein ernüchterndes Bild. Das Centre for Women’s Justice (CWJ), eine Wohltätigkeitsorganisation, begrüßte die angekündigte Untersuchung zwar, äußerte aber auch Skepsis. Die Organisation fordert »sofortiges Handeln« statt einer weiteren Untersuchung, die nur zum wiederholten Mal feststellen würde, was größtenteils schon bekannt ist. Zudem warnte sie eindringlich davor, dass neue Mittel für die Bekämpfung von grooming gangs nicht aus dem ohnehin »winzigen Topf«, der für die Bekämpfung anderer Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen vorgesehen ist, abgezogen werden dürften.
Letztlich wird der Erfolg der Regierungsinitiativen davon abhängen, ob sie einen Kulturwandel innerhalb der Institutionen bewirken können.
Noch drastischer schilderte die Baroness Helen Newlove, die Opferbeauftragte für England und Wales, die Finanzierungslage. Sie warnte, dass die Hilfsdienste für Opfer unter »unerträglichem Druck« stünden und einige spezialisierte Anbieter »am Rande des Zusammenbruchs« seien.
Letztlich wird der Erfolg der Regierungsinitiativen davon abhängen, ob sie einen Kulturwandel innerhalb der Institutionen bewirken können. Die entscheidende Frage bleibt daher, ob es diesmal gelingt, nicht nur die Richtlinien, sondern auch die alltägliche Praxis zu reformieren und die Haltung gegenüber den Schutzbedürftigen zu verändern.