Der Kranke heißt Lucius Marcius Grabillo. Er hat überlange dünne Finger, asymme­trische Schultern, einen zu engen Brustkorb und ein verkrüppeltes linkes Bein, und sein ganzer Körper ist schief. L. M. Grabillos irdisches Dasein muss kurz gewesen sein, doch sein kranker Körper lebt weiter in Form einer Bronzestatue, auf deren rechtem Bein sein Name graviert ist – am Anfang einer Inschrift, die verkündet, dass der Stifter der heißen Quelle weitere sechs Statuen und ebenso viele Bronzebeine weihte und darbrachte. Die zweimal sechs Bronzen sind im Abgrund der Geschichte verschwunden, aber die eine, einzigartige blieb er­halten, in der Tiefe eines Brunnenbeckens, das den Ort, an dem es liegt, vor drei Jahren weltberühmt gemacht hat.

Die Toskana ist reich an heißen Quellen

Im Sommer 2021 begannen am Fuß ei­nes Hügels nahe der toskanischen Kleinstadt San Casciano Ausgrabungen in ei­nem verschütteten Becken, das zu einem kurz zuvor freigelegten antiken Quellheiligtum gehörte. Der bergige Südteil der Provinz Siena ist reich an heißen Quellen, und bei San Casciano sprudeln sie besonders üppig. Am Bagno Grande, wo 25 Liter schwefelhaltiges Wasser pro Sekunde aus der Erde fließen, hatten die Medici im sechzehnten Jahrhundert eine Thermenanlage mit Säulengang errichtet, in deren Becken die Einheimischen noch heute baden. Auf dem Grabungsgelände neben den Becken fanden die Archäologen Tausende Münzen sowie Weihgeschenke aus der römischen Kaiserzeit bis zum späten vierten Jahrhundert nach Christus, darunter die Bronzefigur eines Knaben mit Ball und Medaillon – eine bedeutende, aber noch nicht sensationelle Entdeckung.

Der Kranke als Kunstwerk: Bronzestatue des Lucius Marcius Grabillo, 1. Jahrhundert nach ChristusDer Kranke als Kunstwerk: Bronzestatue des Lucius Marcius Grabillo, 1. Jahrhundert nach ChristusF. Marsili

Dann aber legten sie unter den Fragmenten von Säulen und Statuen, mit de­nen das Heiligtum im frühen fünften Jahrhundert verschlossen worden war, eine weitere, mit Ziegeln und Dachpfannen bedeckte Fundschicht frei. Ein bronzenes Blitzbündel und eine steinzeitliche Pfeilspitze zwischen den Ziegeln deuteten auf das Ritual des fulgur conditum, des „begrabenen Blit­zes“, mit dem die Stätte nach einem Blitzschlag um 40 nach Christus feierlich versiegelt worden war. Als die Ziegelschicht abgeräumt wurde, kam ein Schatz zutage, wie ihn die klassische Ar­chäologie bislang an keinem vergleich­baren Ort geborgen hat: Groß- und Kleinbronzen aus den letzten drei vorchrist­lichen Jahrhunderten, perfekt konserviert im Schlamm der heißen Quelle, darunter die Statue des kranken etruskischen Aristokraten L. M. Grabillo aus Chiusi.

Die Ausstellung auf der Berliner Mu­se­ums­insel, in der die Funde zum ersten Mal außerhalb Italiens zu sehen sind, beginnt passenderweise mit einer Einführung in die Welt der Etrusker. Die Kultur der aus Kleinasien eingewanderten Rasenna, wie sie selbst sich nannten, ist für die Archäologen trotz reicher materieller Überlieferung bis heute eine Black Box, weil sie die zugehörige Sprache nur in Bruchstücken verstehen. Deshalb bleibt die Etruskologie auf römische Quellen angewiesen, was etwa beim Verständnis der etruskischen Religion, zu deren Götterhimmel nicht weniger als fünfzig Hauptgötter gehören, einige Probleme aufwirft.

Klar ist immerhin, dass die Blitzdeutung ne­ben der Eingeweideschau eine Spezialität der Etrusker war, weshalb die Versiegelung des Beckens im ersten Jahrhundert auch nicht baulicher Schadensbegrenzung, sondern allein der Ab­wehr göttlichen Zorns gedient haben kann. Klar ist auch, dass das Gebiet von San Casciano zum Einflussbereich von Chiusi gehörte, eines der zwölf Stadtstaaten, deren loser Bund den Kern der etruskischen Macht in Mittelitalien bildete.

Römerkopf: Männerbildnis des Publius L. Domitius, Ende 1. Jahrhundert v. Chr.Römerkopf: Männerbildnis des Publius L. Domitius, Ende 1. Jahrhundert v. Chr.SMB, Antikensammlung/Franziska Vu

Aus Chiusi stammen dementsprechend die meisten namentlich bekannten Stifter des Quellheiligtums, von Ancari, der Frau des Amthe, die für ihren Sohn die erwähnte Knabenbronze gießen ließ, bis zu Arnth Fastntru, Sohn des Pesna, der ebenfalls ei­ne Kinderstatue übergab, deren bronzener Ball sich noch immer in der schmächtigen Hand drehen lässt. Andere Spender stammen aus dem ebenso bedeutenden Pe­rugia, dessen Verbindungswege zur Küste durch San Casciano liefen. Dass das Heiligtum bei seiner Errichtung im dritten vorchristlichen Jahrhundert unter griechischem Kultureinfluss stand, bezeugen eine Statuette des Gottes Apoll, etruskisch Ap­lu, als Bogenschütze, dessen Pfeile Krankheit und Tod bringen, und die Votivstatue einer Priesterin im wallenden Chitonkleid, dessen Faltenwurf sich erkennbar an hellenistischen Vorbildern orientiert.

Die politische Kultur der Region aber war römisch. Denn anders als die weiter südlich gelegenen Etruskerstädte suchte Chiusi spätestens seit den Kriegen gegen Karthago nicht mehr die Konfrontation mit Rom, sondern seinen Schutz. Im Bundesgenossenkrieg, als halb Italien gegen die Römer kämpfte, blieben die Clusiner an ihrer Seite und bekamen dafür im Jahr 89 vor Christus das römische Bürgerrecht. Wie weit die Romanisierung damals schon fortgeschritten war, zeigt die Bronzefigur eines Mannes mit Toga, die direkt neben dem bogenschießenden Apoll zum Vorschein kam. Sein senatorisches Schuhwerk und seine Rednerpose erinnern nicht zufällig an den „Arringatore“ aus Perugia, der einige Jahre zuvor entstand und heute im Archäologischen Nationalmuseum Florenz gezeigt wird. Aber während die Inschrift auf der älteren Statue noch aus etruskischen Buchstaben besteht, sind es auf der jüngeren bereits lateinische.

Die Quelle der Schätze: Ausgrabungsstätte in San Casciano dei BagniDie Quelle der Schätze: Ausgrabungsstätte in San Casciano dei BagniLudovico Salerno

Das Wunder der Funde von San Casciano ist ein zweifaches. Einerseits haben der schweflige Schlamm und die rituelle Versiegelung hier Kunstwerke gerettet, die anderswo längst zu Kesseln und Kanonen­kugeln eingeschmolzen worden wären. An­dererseits stellt das Funddepot selbst be­reits eine Ausnahme dar. Die Herrin der Quelle, die auf kaiserzeitlichen Altären als Fortuna Primigenia oder gar als Isis angesprochen wird, muss eine anspruchsvolle Göttin gewesen sein. Während in antiken Tempeln sonst fast nur Terrakotten und Holzobjekte geweiht wurden, war in San Casciano offenbar die Bronze der materielle Maßstab für Freigiebigkeit, um den kein betuchter Stifter herumkam.

Es spricht für die Qualität der Berliner Antikensammlung, dass es den Staatlichen Museen gelungen ist, um die fünfzehn großen und mehr als hundert kleineren Leihgaben aus San Casciano einen Kranz ergänzender Objekte zu legen: etruskische Kopfvotive, griechische Terrakotten, eine Fortuna aus Smyrna, ein kleiner Apoll, ein Spiegel aus Chiusi. Aber in der James-Simon-Galerie gehört die Show den Schätzen des Quellheiligtums, den Armen, Füßen und inneren Organen, die für durch­littene Krankheiten stehen, dem halben Torso, der wohl von einer Lähmung erzählt, den Gesichtern und Körpern helfender Götter und leidender Menschen.

Dabei darf man nicht vergessen, dass die zahlungskräftigen Stifter eine ver­schwin­den­de Minderheit unter den Pilgern waren. Zwischen den Bronzen fanden die Ausgräber unzählige Pinienzapfen und -kerne, geschnitzte Holzstücke, Kämme und Obst. Es waren die Opfergaben des Volkes, dem Männer wie Lucius Marcius Grabillo vorstanden. Auch er war krank. Aber er war wenigstens reich.

Die Bronzen von San Casciano dei Bagni. Eine Sensation aus dem Schlamm. James-Simon-Galerie, bis 12. Oktober, Katalog 24 Euro.