In Kirkenes testet Kremlherrscher Putin seinen Krieg gegen den Westen. Männer wie Johan Roaldsnes sollen die Russen aufhalten

Das norwegische Dorf wurde einst von den Sowjets befreit und pflegte lange eine freundschaftliche Beziehung zum Kreml. Heute ist Kirkenes Schauplatz eines neuen kalten Krieges.

In Kirkenes galten schon immer andere Regeln. An diesem Ort ganz im Norden Norwegens liegt einer der letzten europäischen Häfen, wo russische Schiffe noch anlegen dürfen – ein Relikt der jahrelangen Zusammenarbeit in der Fischerei. Und hier, weniger als zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt, könnte jeder ein Spion sein. Auch das russische Fischerboot, das an diesem Dezembertag im Hafen liegt.

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Ein Mann reisst die Türe der Kommandobrücke auf, tritt an die Reling der «Korund» und blickt sich um. In der Hand hält er eine Kamera. Wenige Minuten später verschwindet er wieder im Innern des Schiffs. Was er genau fotografiert hat, lässt sich vom Quai aus nicht erkennen.

Das russische Fischerboot «Korund» ankert im Hafen von Kirkenes. Es ist einer der wenigen Häfen, wo die Schiffe aus dem Osten noch anlegen dürfen.

Das russische Fischerboot «Korund» ankert im Hafen von Kirkenes. Es ist einer der wenigen Häfen, wo die Schiffe aus dem Osten noch anlegen dürfen.

Klar ist: Die Boote aus dem Osten fischen in der Barentssee nicht nur nach Schellfisch und Kabeljau. Der Kreml setzt sie auch für Spionage ein, im Kriegsfall dienen sie der russischen Marine.

Ein früherer Bürgermeister nannte Kirkenes einst die «russische Stadt in Norwegen». Im Zweiten Weltkrieg hatte die Rote Armee die Nazis aus der Finnmark gejagt und Kirkenes befreit. Die Russen wurden als Helden gefeiert, und als die Sowjetunion während des Kalten Krieges von der westlichen Welt abgeschottet war, bauten die Norweger auf der russischen Seite des Grenzflusses das Wasserkraftwerk Boris Gleb. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging die Grenze wieder auf und aus Norwegern und Russen wurden Nachbarn und Arbeitskollegen, manche verliebten sich.

Dann griffen Putins Truppen im Februar 2022 die Ukraine an. Seither ist die Stromleitung zwischen Boris Gleb und Kirkenes tot. Neben der Kirche, die Kirkenes seinen Namen verliehen hat, parkiert ein gelb-schwarzer Transporter mit der Aufschrift «Stop War, Stop Putin», gegenüber dem russischen Generalkonsulat haben Anwohner ein Denkmal für Nawalny errichtet. Die Grenze ist zwar noch offen, norwegische Behörden raten aber dringend von Reisen nach Russland ab.

Nur ein paar Strassenschilder in kyrillischer Schrift erinnern daran, was einst war und vielleicht nie mehr sein wird. Kirkenes, das abgelegene Fischerdorf am äussersten Zipfel Europas, ist ins Zentrum eines neuen kalten Krieges gerückt.

Die russischen Strassenschilder wurden nach Russlands Angriff auf die Ukraine zum Politikum.

Die russischen Strassenschilder wurden nach Russlands Angriff auf die Ukraine zum Politikum.

Der Geheimdienstchef

Am frühen Morgen leuchtet der Horizont über Kirkenes blassrosa. Johan Roaldsnes fährt seinen SUV mit abgedunkelten Scheiben über eine schneebedeckte Strasse Richtung Russland. Als der Wagen vor einem Maschendrahtzaun zum Halten kommt, zeigt die Temperaturanzeige –33 Grad. Die Absperrung sieht so behelfsmässig aus, dass sie nicht einmal ein paar Rentieren standhalten würde. Es ist die Grenze zwischen Norwegen und Russland.

Links erstreckt sich der gefrorene Pasvik-Fluss, rechts ein bewaldeter Felshang. In weiter Ferne erkennt man die Lichter des Wasserkraftwerks von Boris Gleb. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Roaldsnes steht vor dem Grenzzaun und lächelt schelmisch. «Ein paar Minuten», sagt er, «so lange dauert es, bis der norwegische Geheimdienst hier ist, wenn jemand die Grenze überqueren sollte.»

Roaldsnes – 40 Jahre alt, gross, in Anzugschuhen– leitet die lokale Abteilung der norwegischen Sicherheitspolizei, PST. Er ist der Mann für seltsame Zwischenfälle, die im Norden Norwegens ständig passieren: Kommunikationskabel brechen ab, Hunderte Migranten tauchen wie aus dem Nichts an der Grenze auf, GPS-Signale werden gestört. Für Russland ist Kirkenes ein Labor für seinen Krieg gegen den Westen. Männer wie Roaldsnes sollen ihn aufhalten. Sein letzter Einsatz ist erst einen Tag her. Darüber sprechen darf er nicht.

Johan Roaldsnes war am Tag vor dem Treffen bei einem geheimen Einsatz. Im Norden Norwegens geschieht ständig Seltsames.

Johan Roaldsnes war am Tag vor dem Treffen bei einem geheimen Einsatz. Im Norden Norwegens geschieht ständig Seltsames.

Wo der autoritäre Staat auf die vertrauensbasierte Gesellschaft trifft: Auf russischer Seite der Grenze erstreckt sich eine Sperrzone 18 Kilometer ins Landesinnere. Auf der norwegischen Seite steht ein verrosteter Zaun.

Wo der autoritäre Staat auf die vertrauensbasierte Gesellschaft trifft: Auf russischer Seite der Grenze erstreckt sich eine Sperrzone 18 Kilometer ins Landesinnere. Auf der norwegischen Seite steht ein verrosteter Zaun.

Klar ist: Roaldsnes und der PST werden nur bei schweren Gefahrenlagen beigezogen. Roaldsnes kann sich noch gut an einen seiner ersten Einsätze erinnern.

Er erzählt, wie im Herbst 2015 plötzlich über 5000 Migranten vor der norwegischen Grenzstation Storskog standen. Eigentlich ist das unmöglich, denn auf russischer Seite der Grenze liegt eine Sperrzone, die 14 bis 18 Kilometer ins Landesinnere reicht. Ohne Bewilligung kommt dort niemand rein.

Roaldsnes war damals gerade erst zum PST gestossen und arbeitete in der Abteilung für Terrorbekämpfung. «Wir diskutierten, ob es sein könne, dass Russland dahintersteckt – dass der Kreml diese Menschen mit Absicht an die Grenze schickt. Aber das schien selbst uns zu bösartig.» Roaldsnes und seine Kollegen irrten.

Der Kreml wollte herausfinden, wie die Behörden auf den Druck an der Grenze reagieren würden. War es möglich, so Chaos zu stiften?

Norwegen wurde von der Zahl der Ankommenden überrascht. Statt die Grenze zu schliessen, nahmen die Behörden Asylgesuche entgegen. Viele der Reisenden tauchten danach unter oder zogen weiter in andere europäische Länder. Der Kreml verbuchte die Operation als Erfolg. Im Winter 2023 setzte er Migranten wieder als Druckmittel ein – diesmal an der finnischen Ostgrenze.

Roaldsnes wechselte 2016 von der Terrorismusbekämpfung zur Spionageabwehr. In Kirkenes schlug ihm Misstrauen entgegen. Die Beziehung zwischen Norwegen und Russland war damals eine andere als heute. Nicht Russland wurde in Kirkenes als Feind wahrgenommen, sondern die norwegische Polizei. Das Misstrauen hatte historische Gründe.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Finnmark von den Nazis besetzt. Hilfe kam aus dem Osten. Die Sowjetunion bildete Norwegerinnen und Norweger zu Widerstandskämpfern aus. Gemeinsam mit der Roten Armee besiegten sie die Nazis. Nach dem Krieg gerieten die Partisanen in den Fokus des norwegischen Geheimdienstes. Die Vorgängerorganisation des heutigen PST liess ihre eigenen Bürger jahrzehntelang überwachen – vielfach zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte.

Um das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, trat Roaldsnes vor die Medien. «Ich musste der Behörde ein Gesicht geben, sie menschlich machen und erklären, was wir machen», sagt er. Die Haltung der meisten im Dorf habe sich inzwischen geändert. Das hat nicht nur mit der weltpolitischen Lage zu tun. Roaldsnes ist kein fremder Agent mehr, sondern ein Vater, der seine Kinder jeden Morgen in den Kindergarten fährt und dem man im Dorfladen begegnet.

Sein Büro befindet sich auf dem Polizeiposten von Kirkenes. An einer Wand im Gang hängen das norwegische und das finnische Wappen. Den Spuren nach war daneben bis vor kurzem noch ein drittes Emblem angebracht. Jetzt erinnern an Russland nur noch die Aktenberge, die Roaldsnes täglich zu wälzen hat. Was treibt ihn an? «Der Job ist unterhaltsam für meinen Geist», sagt er. Es gehe darum, sich nicht zu verlieren in der Informationsfülle, sich nicht ablenken zu lassen von allzu Offensichtlichem.

Roaldsnes sagt: «Wenn unsere Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wird, geschieht unbemerkt oft etwas ganz anders. Das Problem ist bloss, dass du nie weisst, wovon du ablenkt wirst.»

Wie im Januar 2023. Da überquert ein Mann namens Andrei Medwedew, ein Mitglied der russischen Söldnerarmee Wagner, die Grenze über den gefrorenen Pasvik-Fluss. Den norwegischen Behörden erzählt Medwedew, er sei ein Überläufer und ersuche um Asyl. Doch etwas lässt Roaldsnes misstrauisch werden: Wie war der Mann durch die streng bewachte, militarisierte Kola-Halbinsel gekommen? Roaldsnes wittert eine Falle.

Sicherheit darüber gibt es bis heute nicht. Obwohl Medwedews Asylgesuch im Februar 2024 abgelehnt wurde, hält er sich immer noch in Norwegen auf und beschäftigt die Behörden weiter.

Der Bürgermeister

Die Grenze trennt die Welt in Ost und West, in Gut und Böse. Doch je näher man ihr kommt, desto schwammiger wird sie.

Der Bürgermeister Magnus Maeland musste auf die harte Tour lernen, was es bedeutet, das norwegische Grenzland zu regieren. Wie Roaldsnes ist auch Maeland ein Zugezogener. Er kam 2015 als Lehrer nach Kirkenes, «auf der Suche nach besseren Möglichkeiten», wie er selbst sagt. Später wurde er Chefbeamter der Kommune, dann Leiter der örtlichen Handelskammer.

Am liebsten würde Maeland bloss über etwas reden: die grossartige Zukunft von Kirkenes. Er sagt: «Wir haben hier alles: Rohstoffe, erneuerbare Energien, Tourismus, Jobs.» Doch der Krieg in der Ukraine und die Russen lassen ihm keine Ruhe. Für ausländische Journalisten ist Kirkenes das Ende der westlichen Welt, ein geopolitischer Brennpunkt und ein mögliches nächstes Ziel des Kremls. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine kommen sie aus aller Welt hierher, um Maeland zu interviewen. Sie wollen wissen, wie es sich neben Russlands Atomwaffen lebt.

In den letzten Monaten zeigte sich Maeland gerne als Mann der klaren Worte. Am ukrainischen Unabhängigkeitstag im August führte er eine Protestaktion vor dem russischen Generalkonsulat durch, er plädiert für Nato-Übungen in der Finnmark und sagt: «Autoritäre und totalitäre Regime verstehen nur eine deutliche Sprache. Du musst bestimmt sein. Es gibt nur Ja oder Nein – nichts dazwischen.»

Ganz so klar ist im Grenzland vieles dann aber doch nicht – das zeigt exemplarisch die Geschichte mit der Holzstatue.

Sie steht am Eingang des Stadthauses, mannshoch, unübersehbar. Die russische Partnergemeinde Murmansk hatte Kirkenes den «Freundschaftstanz» 1998 geschenkt. Die Skulptur zeigt einen Löwen und einen Bären, die sich lächelnd an den Pfoten halten. Von der einstigen Freundschaft ist nichts mehr übrig. Trotzdem sagt Maeland: «Ich sehe keinen Grund, die Statue zu entfernen. Man kann die Geschichte nicht einfach auslöschen.»

Magnus Maeland sieht in Kirkenes vor allem Chancen.

Magnus Maeland sieht in Kirkenes vor allem Chancen.

Die Holzstatue «Der Freundschaftstanz» war ein Geschenk der russischen Gemeinde Murmansk. Maeland sieht keinen Grund, sie zu entfernen.

Die Holzstatue «Der Freundschaftstanz» war ein Geschenk der russischen Gemeinde Murmansk. Maeland sieht keinen Grund, sie zu entfernen.

Maeland spricht aus eigener Erfahrung. Denn er hat es bereits probiert – und ist gescheitert. Im September 2024 kündigte er in einem Interview an, die russischsprachigen Strassenschilder in Kirkenes abmontieren zu lassen. Doch mit etwas hatte Maeland nicht gerechnet: dem Widerstand in der Gemeinde. Eine Gewerkschaft verglich Maelands Methoden mit jenen von Donald Trump und warf ihm vor, Zwietracht zu sähen. Am Ende sah sich der Bürgermeister gezwungen, zurückzukrebsen.

Jetzt sitzt Maeland in seinem Büro auf dem Sofa und schiebt Snus-Tabak unter seine Oberlippe. Das Interview sei ein Fehler gewesen, er habe Fieber gehabt. Vielleicht brauche die Bevölkerung mehr Zeit, und dann seien da ja noch die Flüchtlinge aus der Ukraine, die die kyrillische Schrift besser lesen könnten als die norwegische. Und überhaupt: «Mich interessieren diese Schilder nicht, ich bin fertig damit.»

Die Nähe zu Russland ist in Kirkenes allgegenwärtig. Nur einen Steinwurf von Maelands Büro entfernt befindet sich das russische Generalkonsulat. Davor weht die russische Flagge, an der Fassade sind Überwachungskameras angebracht. Am Laternenpfahl vor dem Haus hängt nur ein einziges Strassenschild mit dem kyrillischen Wort für «Kirchgasse». Die norwegische Bezeichnung fehlt. Das Konsulat hat seine Dienste zwar vor Monaten eingestellt. Doch der Generalkonsul ist immer noch da. Und er macht Maeland das Leben schwer.

Die Bürgerinnen und Bürger von Kirkenes hatten sich im Oktober 2023 vor einem Denkmal versammelt, um der Befreiung in Zweiten Weltkrieg zu gedenken. Maeland hielt eine Rede, in der er auch den ukrainischen Soldaten, die damals in der Roten Armee gekämpft hatten, dankte. Dann legte er einen Blumenkranz nieder und ging. Wenig später tauchte eine Gruppe von ortsansässigen Russinnen und Russen vor dem Monument auf, unter ihnen der Generalkonsul. Er trug das Georgsband, das Symbol des russischen Grossmacht-Patriotismus und ein riesiges Blumengesteck aus Plastik mit einer russischen Flagge. Dieses legte er über den Kranz der Gemeinde, so dass es ihn überdeckte.

Als Maeland von der Aktion erfuhr, eilte er zurück zum Denkmal und legte den russischen Kranz neben den norwegischen. Noch während er vor Ort mit Journalisten sprach, nahm eine Russin das Gesteck und legte es erneut auf Maelands Kranz. In der Nacht verschwanden die Plastikblumen der Russen. Sie tauchten erst im nächsten Frühling wieder auf, als der Fluss auftaute.

Wenn man Maeland fragt, ob die Gemeinde wegen Russlands Angriffskrieg gespalten sei, sagt er: «Norwegen unterstützt die Ukraine. Ende der Diskussion.» Die Episode mit den Blumenkränzen sei eine absurde Erfahrung gewesen. «Russland versucht Spannungen zu erzeugen, aber wir lassen uns nicht zum Narren halten.»

Der Journalist

Georgi Tschentemirow sass mit seiner Frau beim Abendessen, als ihn der Kreml zum ausländischen Agenten erklärte. Das war im März 2023 – und Tschentemirow war nicht überrascht.

Er hatte die Seiten gewechselt – im Wissen, was kommen würde.

In seinem früheren Leben war er das, wogegen er heute ankämpft: Präsident des karelischen Journalistenverbands und Chefredaktor von «Republik», der staatlichen Informationsagentur Kareliens. Tschentemirow arbeitete für einen Propagandakanal des Kremls.

Jetzt sitzt er 900 Kilometer von seiner alten Heimat Petrosawodsk entfernt in der Redaktion des «Barents Observer». Russland hat die norwegische Online-Zeitung inzwischen zu einer unerwünschten ausländischen Organisation erklärt. Auf seinem Pullover prangt das Antlitz Putins hinter Gittern, darunter der Text: «Willkommen am Internationalen Gerichtshof von Den Haag.» An der Wand in der Redaktion steht mit leuchtenden kyrillischen Buchstaben das Wort «Freiheit» geschrieben.

Georgi Tschentemirow möchte Putin am liebsten hinter Gittern sehen. Würde er in seine Heimat zurückkehren, würde ihm dieses Schicksal drohen.

Georgi Tschentemirow möchte Putin am liebsten hinter Gittern sehen. Würde er in seine Heimat zurückkehren, würde ihm dieses Schicksal drohen.

Georgi Tschentemirow ist nicht frei.

In Russland würde Tschentemirow im Gefängnis landen. Dafür, dass er den Krieg gegen die Ukraine als Krieg bezeichnet hat und die Annexion der Krim als Annexion. Er sagt: «Wenn Menschen falsche oder unzureichende Informationen haben, hat das hässliche Folgen – das sehen wir gerade in Russland.» Er weiss aus erster Hand, wovon er spricht.

Auch Tschentemirow ist ein Produkt dieser autoritären Gesellschaft, die auf Lügen und Einschüchterung basiert. Er wurde 1985 in Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans, geboren. Den Eltern fehlte das Geld für eine Wohnung, manchmal auch für Essen. Mit seiner Mutter lebte er die ersten Jahre in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung. Als er vier war, zog die Familie nach Petrosawodsk.

Tschentemirow war ein fauler Schüler, wie er selbst sagt, aber er konnte gut schreiben. «Ich wurde Journalist, ohne zu verstehen, was Journalismus ist», sagt er heute. Die perfekte Voraussetzung für den Posten als Chefredaktor eines russischen Staatsmediums.

Als die Krim 2014 von Russland annektiert wurde, sah Tschentemirow den Überfall nicht als Besetzung. Er sagt: «Ich dachte damals: Die Krim hätte nie zur Ukraine gehören sollen – was ist also das Problem?» In der Familie sorgte das für Streit. Sein Vater, ein in Kiew geborener Jude, schimpfte über die «verdammte Okkupation» und seinen Sohn, der es nicht sehen wollte.

Die Erkenntnis kam schleichend. In Putins Russland erreichte der Informationskrieg auch die Lokalredaktionen. Tschentemirow beobachtete den Wandel aus erster Reihe. «Es gab schon immer Themen, über die wir nicht berichten konnten, aber es wurde schlimmer und schlimmer und schlimmer. Irgendwann machten wir fast nur noch Propaganda.» Tschentemirow zog die Konsequenzen. 2017 wechselte er zu einem privaten Medienhaus – «um endlich als Journalist zu arbeiten», wie er selbst sagt.

Als Putins Truppen im Februar 2022 in der Ukraine einmarschierten, schrieb er vom Krieg und von getöteten Soldaten. Der karelische Journalistenverband reichte unter seiner Leitung eine Erklärung gegen die Zensur ein. «Natürlich wussten wir, dass sich nichts ändern würde, aber wir wollten ein Zeichen setzen.» Spätestens da muss Tschentemirow ins Visier des russischen Geheimdienstes FSB geraten sein.

Im Herbst 2022 wurde es zu gefährlich. Tschentemirow verliess Russland mit seiner Frau und den zwei Kindern. In Kirkenes landete er, weil der «Barents Observer» zur selben Zeit eine Stelle für russische Exil-Journalisten ausgeschrieben hatte. Ein Zurück gibt es für ihn nicht, nicht solange Putin an der Macht ist. Seine Eltern sind geblieben.

Auch wenn er viel aufgeben musste, sieht er sich als Profiteur des Krieges. Weil er in Europa ein neues, freieres Leben beginnen konnte. Weil er beim «Barents Observer» endlich ohne Zensur schreiben kann. Und weil seine Kinder in einer freien Gesellschaft aufwachsen können.

Dazu gehört, dass nicht alle einer Meinung sind. Da ist der Bulgare im Boxklub, der für Putin ist. Und die russische Nachbarin, die zwar freundlich grüsst, aber den Angriffskrieg befürwortet. «Natürlich macht mich das wütend», sagt Tschentemirow. «Aber genau das ist doch die Meinungsäusserungsfreiheit: Sie können denken, was sie wollen, und sie können es erzählen, wem sie wollen. So funktioniert Demokratie.»

Die russische Stadt Murmansk ist Kirkenes geografisch näher als Norwegens Hauptstadt Oslo. Doch der neue kalte Krieg hat die beiden Gemeinden einander entfremdet.

Die russische Stadt Murmansk ist Kirkenes geografisch näher als Norwegens Hauptstadt Oslo. Doch der neue kalte Krieg hat die beiden Gemeinden einander entfremdet.

Epilog

Lange wähnte sich Kirkenes als Sonderfall. Weder der Kalte Krieg noch die Annexion der Krim hatten das freundschaftliche Verhältnis zum Kreml erschüttert. Die lokale Politik folgte ihren eigenen Regeln, im Grenzland bewegte man sich zwischen Ost und West – bis Kirkenes im Februar 2022 von der Realität eingeholt wurde.

Der Bürgermeister Magnus Maeland sagt: «Wir haben auf ein anderes Russland gehofft, wir haben viel in die Beziehungen investiert. Aber die Zeit ist gekommen, um zu erkennen, dass die Kooperation vorbei ist.»

Der Journalist Georgi Tschentemirow sagt: «Du kannst dieses System nicht brechen. Nicht allein. Deshalb bleibt nur eines: Du musst da raus.»

Der Geheimdienstchef Johan Roaldsnes sagt: «Die Beziehung zu Russland hat sich für immer verändert.»

Im Mai hat die EU ein neues Sanktionspaket verabschiedet, das dazu führen könnte, dass bald auch die letzten russischen Trawler aus dem Hafen von Kirkenes verbannt werden. Arbeiter haben damit begonnen, einen neuen Zaun auf norwegischer Seite der Grenze zu errichten. Wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages einfriert, wird sich Russland ein neues Ziel suchen – da sind sich westliche Geheimdienste sicher. Während der Klimawandel das Meereis in der Arktis auftaut und neue Seewege freimacht, wächst in der Bevölkerung die Sorge, dass die Barentssee in den Fokus geraten könnte. Womöglich auch Kirkenes.

Kirkenes liegt am äussersten Zipfel Europas. Der Flughafen ist die Anbindung an die westliche Welt.

Kirkenes liegt am äussersten Zipfel Europas. Der Flughafen ist die Anbindung an die westliche Welt.