Schutzlkausel EU-Verträge

Händedruck auf den Vertragsabschluss: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem Schweizer Chefunterhändler Pactric Franzen im Dezember 2024 in Bern.

Keystone / Alessandro Della Valle

Sollten Bern und Brüssel wegen der Zuwanderung und der Schutzklausel einmal Streit haben, geraten Auslandschweizerinnen und -schweizer als erstes zwischen die Fronten. Ein Blick auf die neuen Verträge zeigt, was dann möglich ist.

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08. Juli 2025 – 06:00

Balz Rigendinger

Ich arbeite als Journalist, Editor und Bundeshauskorrespondent für SWI swissinfo.ch. Für die Auslandschweizer:innen berichte ich über die Schweizer Politik, zudem leite ich unsere politische Talkshow Let’s Talk.
Meine journalistische Laufbahn begann in den frühen 1990er-Jahren im Lokaljournalismus. Seither habe ich in vielen Bereichen dieser Branche gearbeitet, leitende Positionen übernommen und verschiedene Dossiers betreut. 2017 bin ich zu SWI swissinfo.ch gestossen.

Vor allem die Personenfreizügigkeit ist in den neuen Verträgen zwischen der Schweiz und Brüssel umstritten. Der Bundesrat gibt offen zu, dass sie der Preis ist, den die Schweiz für die anderen Binnenabkommen bezahlt, von denen sie wirtschaftlich profitiert.

Warum wollte die Schweiz eine Schutzklausel?

Die Landesregierung weiss auch, dass die Schlacht im Inland bald um die Zuwanderung geführt wird. Zudem deuten alle Zeichen und die bisherige Erfahrung darauf hin: Sollte es zwischen Bern und Brüssel je wieder zu Verwerfungen kommen, dann am ehesten wegen der Personenfreizügigkeit.

Dies wurde bei den neuen Verträgen berücksichtigt. Nicht umsonst beharrte die Schweiz bis zuletzt auf einer Schutzklausel, mit der sie die Zuwanderung im Bedarfsfall bremsen kann – und nicht umsonst ging die EU darauf ein. (Hier der VertragstextExterner Link auf Seite 21)

Wie griffig diese Schutzklausel ist, bleibt allerdings unklar. Um sie aktivieren zu können, müsste die Schweiz zunächst nachweisen, dass ihr die Zuwanderung «schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme» bereitet, beispielsweise in Form eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Grenzgänger:innen oder der Sozialhilfequote.

Was passiert, wenn die Schweiz die Schutzklausel aktiviert?

Der Ablauf ist klar. Welche Konsequenzen eine aktivierte Schutzklausel für die Schweiz haben kann, bleibt jedoch offen.

Der Prozess sieht wie folgt aus: Überschreitet die Zuwanderung in die Schweiz gewisse definierte Schwellenwerte, kann der Bundesrat das gemeinsame Schiedsgericht einberufen. Dieses prüft dann, ob die Schweiz Massnahmen zur Beschränkung ergreifen darf. In diesem Fall erhält jedoch auch die EU einen Hebel in die Hand: Sie darf die Nachteile ausgleichen, die ihr aus der aktivierten Schweizer Schutzklausel entstehen.

Wie kann die EU auf die Schutzklausel reagieren?

Spannend sind die Szenarien, die sich daraus ergeben. Bisher hat die Schweiz eine teilweise leidvolle Geschichte hinter sich, wenn sie den Erwartungen Brüssels nicht entsprach.

Es herrschte eine Politik der «Nadelstiche», das sind Druckmittel, welche die EU insbesondere nach dem Schweizer Nein zum Rahmenabkommen im Jahr 2021 installierte.

Beispiele hierfür sind die verweigerte Teilnahme am Forschungsprogramm «Horizon» und am EU-Austauschprogramm «Erasmus» sowie Schikanen bei der Zulassung von Schweizer Medizinalprodukten in der EU. Etwas weiter zurück liegt die verweigerte Anerkennung der Börsenäquivalenz.

Warum geraten die Auslandschweizer ins Visier?

Gegen all diese Massnahmen protestierte die Schweiz jeweils mit der Begründung, sie seien «sachfremd» und «unverhältnismässig». Die Schweizer Erfahrung mit Brüssels Politik der Nadelstiche ist nun im Vertragswerk verankert. Darin ist neu schriftlich festgehalten, dass Ausgleichsmassnahmen sachbezogen und «verhältnismässig» sein müssen.

Sachbezogen heisst: Aktiviert die Schweiz die Schutzklausel, muss die EU künftig ebenfalls im Bereich der Personenfreizügigkeit ausgleichen. Diese Einheit der Materie hat die Schweiz so angestrebt und zumindest bis zu einem gewissen Grad auch erreicht.

Schutzklausel EU

«Angemessene Massnahmen» im «Geltungsbereich dieses Abkommens»: Vertragstext zur Schutzklausel.

Screenshot

Damit geraten fast zwangsläufig die Auslandschweizer:innen in der EU ins Visier. Sie sind – zusammen mit den Schweizer Staatsangehörigen, die in die EU auswandern – die einzigen, die direkt von der Personenfreizügigkeit betroffen sind.

«Denkbar wäre, dass Auslandschweizer von gewissen Sozialleistungen ihrer EU-Wohnsitzländer ausgeschlossen würden», beschrieb die «Neue Zürcher Zeitung» ein solches SzenarioExterner Link, also etwa von der Arbeitslosenversicherung oder von Leistungen im Zusammenhang mit Krankheit, Alter oder Familie.

Wie viele Schweizer Staatsbürger wären konkret betroffen?

Die Zeitung zitiert auch den europafreundlichen emeritierten Professor für Europarecht Thomas Cottier: «Das Ziel ist, dass es weh tut. Von der Massnahme wären rund eine halbe Million Auslandschweizer:innen betroffen.”

Tatsächlich leben 64% der 820 000 Auslandschweizer:innen in europäischen Ländern, am meisten in Frankreich, gefolgt von Deutschland und Italien. Doch ein Grossteil von ihnen sind Doppelbürger:innen, also auch Bürger:innen der EU.

Bei diesen wären allfällige Ausgleichsmassnahmen nicht ohne weiteres anwendbar. Somit bliebe als mögliches Ziel für potenzielle Schikanen die Gemeinschaft der Schweizer Einfachbürger:innen in der EU. Das sind 118’000 Personen (Stand 2024).

Würde eine Massnahme bei den Auslandschweizer:innen überhaupt wirken?

Doch kann die EU der Schweiz über diese Auslandschweizer:innen überhaupt wehtun? Und wie gross ist also die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet diese Community bei Ausgleichsmassnahmen unter die Räder kommt?

Sie ist eher theoretischer Natur. Zwar schreibt die NZZ, dass eine Massnahme bei den Auslandschweizer:innen innenpolitisch Druck schaffen würde, «zumal diese eine schlagkräftige Lobby haben».

Doch einiges spricht auch dagegen: Erstens wäre der Hebel der EU auf die Schweizer Politik über eine Massnahme an 118’000 Auslandschweizer:innen sehr indirekt.

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Zweitens relativierte der Politologieprofessor Marc Bühlmann von der Universität Bern kürzlich in «Let’s talk» die Schlagkraft der Auslandschweizer-Lobby. Diese Community sei zu heterogen zusammengesetzt und habe im Inland aufgrund fehlender Blockademöglichkeiten zu wenig Hebelwirkung, um politischen Druck aufzubauen, so Bühlmann.

Noch kleiner wäre der Hebel bei den Schweizer Staatsangehörigen, die in die EU auswandern wollen. Ihnen könnte die Zuwanderung in die EU erschwert oder verunmöglicht werden, doch sie bilden schlicht keine kritische Masse.

Die Schweizer Nettoauswanderung in die EU beträgt jährlich nur etwa 6000 Personen – gegenüber 64’000 netto Zuwandernden aus dem EU/Efta-Raum.

Schutzklausel Auslandschweizer

Sie handelten die Verträge mit Brüssel für die Schweiz aus: Chefunterhändler Patric Franzen, Seco-Chefin Helene Budliger-Artieda und Aussenminister Ignazio Cassis.

Keystone / Alessandro Della Valle

Drittens relativiert sich das Ganze auch mit Blick auf die Alternativen: Ein Ausgleich innerhalb des Personenfreizügigkeitsabkommens ist für die EU letztlich nur eine von mehreren Möglichkeiten – und wohl auch gar nicht die präferierte.

Wie funktioniert das Eskalationsmodell bei der Schutzklausel?

Um Konflikte zu lösen, haben die Schweiz und die EU sozusagen drei Eskalationsstufen installiert. Das niedrigschwelligste Verfahren ist der Gang zum gemischten Ausschuss, in dem Expert:innen beider Parteien sitzen. Dieser Ausschuss kommt vorwiegend dann zum Zug, wenn bei den bestehenden Verträgen Interpretationsbedarf entsteht.

Die zweite Eskalationsstufe ist der Gang ans Schiedsgericht, das paritätisch besetzt ist. Ein Ausgleich in diesem Verfahren hätte wie erwähnt, verhältnismässig und sachbezogen zu sein.

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Welche Reaktion von der EU ist wahrscheinlicher?

Das Schiedsgericht kann im Falle einer aktivierten Schutzklausel aber auch zu dem Schluss kommen, dass die Schweizer Probleme nicht auf die Zuwanderung zurückzuführen sind. Oder dass sie nicht schwerwiegend genug sind.

In diesem Fall müsste die Schweiz zurückkrebsen. Steuert sie ihre Zuwanderung in diesem Fall aber dennoch selbst, kann die EU eine dritte Eskalationsstufe beschreiten. Der «normale» Streitbeilegungsmechanismus würde zur Anwendung kommen.

Hier hätte die EU dann das ganze Arsenal, um Druck auf die Schweiz auszuüben. «In dieser Konstellation kann die EU auch in den anderen Binnenmarktabkommen Ausgleichsmassnahmen ergreifen», sagt Europarechts-Expertin Astrid Epiney von der Universität Freiburg gegenüber Swissinfo.

Also dort, wo es eher schmerzt: in den Bereichen, die die Schweizer Wirtschaft oder die Energieversorgung betreffen. «Jedoch nur in den Binnenmarktabkommen, also nicht etwa bei der Forschungszusammenarbeit oder im Asylwesen», ergänzt sie. Explizit ausgenommen bleibt zudem die Landwirtschaft.

Kommt es wieder zu Nadelstichen?

Ein solcher Ausgleich wäre dann zwar sachfremd wie bisher auch die Nadelstiche. Neu wäre aber, dass auch dabei das Prinzip der Verhältnismässigkeit zur Anwendung kommt.

«Über die Verhältnismässigkeit wird man sich allenfalls streiten können, aber auch dafür gibt es neu ein Schiedsgericht», erklärt Astrid Epiney. Und in dieser Frage bleibe der Europäische Gerichtshof aussen vor.

Epiney spricht von einem «geregelten Streitbeilegungsmechanismus, den die Schweiz vorher nicht hatte». Für die Europarechtlerin ist die Zeit der Nadelstiche damit vorbei. «Fehlt ein geordnetes Verfahren, führt das immer dazu, dass die Vertragspartein sich überlegen, wie sie ihre Interessen sonst durchsetzen können», sagt sie. Das habe sich nun erledigt.

Bisher gehörten die Auslandschweizerinnen und -schweizer zu den standhaftesten Verfechtern der Bilateralen Verträge, weil sie stark von der Personenfreizügigkeit profitierten und schlicht auf diese angewiesen sind. Mit den neuen Verträgen wird es für sie zwiespältiger: Sie werden gerade im Bereich der Personenfreizügigkeit auch zur Zielscheibe – wohl aber nur in der Theorie.

Editiert von Samuel Jaberg.

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