Man führt Krieg, und man nennt ihn wieder so. Wladimir Putin brauchte noch etwas mehr als zwei Jahre, bis er seinen Angriff auf die Ukraine nicht mehr als „militärische Spezialoperation“ bemäntelte, sondern klipp und klar Krieg nannte. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dagegen bezeichnete Ende Juni die Attacken auf den Iran schon nach deren Abschluss, nach zwölf Tagen, als Krieg.
Der Krieg, der klassische Krieg zwischen zwei souveränen Staaten, ist zurück. Zurück in der Geschichte des Nahostkonflikts; der bisher letzte war der Jom-Kippur-Krieg 1973. Und zurück in der europäischen Geschichte: So etwas wie Russlands Angriff auf die Ukraine hatte Europa seit 1939 nicht gesehen.
Krieg nennen, was Krieg ist
Das hat etwas mit dem politischen Bewusstsein gemacht. Im Herbst 2023 bemerkte Verteidigungsminister Boris Pistorius, „wir“ müssten „kriegstüchtig“ werden. Die Kritik war heftig, aber unvorstellbar ist heute ein Geeiere wie das von Pistorius‘ Amtsvorgänger Franz Josef Jung, der 2009 von „Kampfsituationen“ in Afghanistan sprach – bis irgendwann auch der Bundesregierung klar wurde, dass man Krieg nennen musste, was Krieg war.
Es ist also wieder Krieg. Wie ganz früher in Europa, bevor das Atompatt zwischen den Supermächten dem Kontinent ein halbes Jahrhundert kalten Frieden brachte und die EU einen Krieg ihrer Mitglieder untereinander vermutlich unmöglich machte. Was Europa erlebte, war Jugoslawien, eine Serie von Sezessions- und Bürgerkriegen, waren Kriege an der äußersten Peripherie, nämlich im Kaukasus, von denen man lieber nicht so genau wissen wollte, und war 2014 die russische Aggression gegen die Ukraine mittels „grüner Männchen“ und scheinselbstständiger „Volksrepubliken“. Auch davor verschloss man im Westen lange fest die Augen. Umso größer war der Zeitenwende-Schock vor drei Jahren.
Der Krieg aber, so höllisch er auch ist und so entsetzlich man ihn auch findet, lässt sich nicht wegdefinieren. Seine Ächtung, Einhegung und Aufarbeitung sind weit vorangekommen mit völkerrechtlichen Abkommen und internationalen Gerichtshöfen. Trotzdem verschwindet der Krieg nicht. Kein Wunder, schrieb 1993 der britische Militärhistoriker John Keegan, denn der Krieg reiche „in die geheimsten Tiefen des menschlichen Herzens“. Mit anderen Worten: Krieg ist, wenn schon nicht eine anthropologische, so doch eine soziologische Konstante.
Etwas weniger poetisch fasste es schon zuvor Sebastian Haffner in den „Anmerkungen zu Hitler“: Es sei ein Fehler gewesen, in den Nürnberger Prozessen auch über die Herbeiführung des Zweiten Weltkriegs (und nicht nur über die Taten in diesem Krieg) zu verhandeln: „Das Unangenehme, aber Unvermeidliche zum Verbrechen zu erklären, hilft nicht weiter. Ebensogut wie den Krieg könnte man den Stuhlgang zum Verbrechen erklären.“
Das ist natürlich polemisch, weil verharmlosend („unangenehm“), und logisch nicht haltbar, denn anders als Stuhlgang ist Krieg keine medizinische Notwendigkeit. Dennoch trifft Haffner einen Punkt: Mit Pazifismus allein ist es nicht getan, denn die Putins dieser Welt scheren sich nicht um Pazifismus. Vorbei sind zum Glück zumindest in Westeuropa die Zeiten, in denen Kindern und Jugendlichen das Wort des römischen Dichters Horaz eingetrichtert wurde, es sei süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.
Zugleich aber behält, wenn man ihm keinen falschen Jubel unterlegt und ihn auf die moderne Politik zurechtstutzt, der 400 Jahre ältere Satz des Griechen Heraklit seine Berechtigung, wonach der Krieg der Vater aller Dinge ist. Der Historiker Dieter Langewiesche hat den Krieg als „gewaltsamen Lehrer“ bezeichnet und seine Effekte auf vier Kurzformeln gebracht: „Ohne Krieg kein Fortschritt, ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution, ohne Krieg kein Nationalstaat, ohne Krieg keine Dekolonisation.“ Daraus „ohne Krieg keine freiheitliche Demokratie“ zu machen, wäre kaum übertrieben. Die Gründung der trotz Zeitenwende vom Pazifismus durchdrungenen Bundesrepublik ist durch einen Krieg erst möglich geworden.
Umso dringlicher stellt sich die Frage, ob und wie Krieg zu kontrollieren ist. Gerade die deutsche Geschichte ist voll bitterer Konflikte ebendarum. Während sich der Erste Weltkrieg vier Jahre lang als ein Akt taktisch-strategischer Selbstherrlichkeit erwies, mit immer neuen sinnlosen Massenangriffen und grauenvollen Verlusten, zeigte der Zweite Weltkrieg, wohin es führt, wenn sich das Militär zum willfährigen Instrument von Massenmördern machen lässt.
Der Überfall des diktatorisch regierten Russland auf die Demokratie Ukraine und der Angriff der Demokratie Israel auf den diktatorisch regierten Iran dienen erklärtermaßen politischen Zwecken – einem Herrschaftswechsel in Kiew hier, mindestens einer Zerstörung des Atomprogramms dort. Beide Male soll militärische Gewalt nur das Mittel sein. Zugleich aber dürfte sie im iranischen Fall auch Zweck gewesen sein: Der israelische Angriff stellte die USA vor halbvollendete Tatsachen und erzwang praktisch das Eingreifen Washingtons mit bunkerbrechenden Bomben, die Israel nicht besitzt.
Clausewitz und die Logik des Krieges
Die Theoriearbeit für Probleme dieses Typs ist vor 200 Jahren in Preußen geleistet worden, durch Generalmajor Carl von Clausewitz in seinem Werk „Vom Kriege“. Von ihm stammt der berühmte Satz, Krieg sei „nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“. Wer die Rückkopplungen zwischen israelischer Innenpolitik und militärischen Entscheidungen in Zeiten von Gaza- und Iran-Krieg betrachtet, weiß, was Clausewitz meinte: Die Logik des Krieges ist politisch. Er fügte freilich hinzu, die Politik dürfe kein „despotischer Gesetzgeber“ werden: Sie müsse „sich der Natur des Mittels fügen“, zugleich aber „fortwährenden Einfluss“ auf den Krieg ausüben, „soweit es die Natur der in ihm explodierenden Kräfte zulässt“.
Der letzte Halbsatz öffnet den Blick in den Abgrund, auf den Hass der Volkskriege des ideologischen Zeitalters und das Inferno eines Atomkriegs. Nicht ohne Grund hat Donald Trump klargemacht, dass die USA es bei Schlägen gegen die iranischen Atomanlagen belassen wollen. Und nicht ohne Grund scheut auch Wladimir Putin die Totalisierung des Krieges – in Moskau, berichten Korrespondenten, sei vom Sterben an der Front dieser Tage nicht viel zu sehen. Und Putin selbst ließ 2024 mitteilen, das Kampfgeschehen in der Ukraine solle doch bitte nicht immer gleich in Verbindung mit einem Atomwaffeneinsatz gebracht werden. Aus Trump wie Putin spricht Clausewitz, spricht der Primat der Politik bei völlig unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielen.
Krieg um seiner selbst willen, wie das NS-Regime ihn anzettelte, ist hoffentlich ausgestorben. Ob die Clausewitzsche Prämisse der politischen Lenkung des Krieges allerdings der Wirklichkeit standhält, ist noch lange nicht erwiesen. Technisch bietet das 21. Jahrhundert möglicherweise so gute Chancen wie nie, Krieg in Grenzen zu halten. Was sich in den geheimen Tiefen des Herzens verbirgt, lässt sich nicht vorhersagen.