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Mann gegen Mann: Sowohl Russland wie die Ukraine haben ihre Gefechte auf Gruppen von einem halben bis einem Dutzend Kräften reduziert, weil die Drohnen keine größeren Verbände auf dem Gefechtsfeld zulassen. Zumindest die Ukraine hat wohl Schwierigkeiten, ihren Verteidigern adäquate Stellungen zu bauen. © IMAGO/Vyacheslav Madiyevskyy/Avalon
Anstelle großer Verbände jetzt immer kleinere Trupps. Bald treffen Russen und Ukrainer Mann gegen Mann aufeinander. Die Verteidiger wirken aktuell kopflos.
Kiew – „Was in den Regionen Sumy und Charkiw passiert, ist ein einziges Chaos“, sagt Roman Pohorilyi. Der Open-Source Analyst der ukrainischen DeepState-Organisation, äußert gegenüber dem Magazin Politico, dass die Verteidiger im Ukraine-Krieg gegen Wladimir Putins Invasionstruppen offenbar heillos überfordert seien: „Kaum jemand weiß, wer wofür verantwortlich ist und wer den Prozess kontrollieren soll“. Der „Prozess“ bedeutet, dass die Ukraine ihre Verteidigung neu organisieren muss. Der Russe drückt offensichtlich wieder so heftig, dass sich immer kleinere Trupps immer enger einigeln müssen. Demnach stünde die Ukraine wieder mit dem Rücken an der Wand.
Russland hat seine Offensiven vor geraumer Zeit umgestellt und auch die Verteidiger zur Umgruppierung gezwungen. Bereits in den Kämpfen um Kursk hatten hatten russische Infanterieeinheiten wiederholt versucht, mit kleinen Trupps aus rund einem Dutzend Männern in die ukrainischen Verteidigungslinien einzudringen wie Nadelstiche – geschuldet war das nicht zuletzt der Herrschaft von Drohnen über das Schlachtfeld – größere Ansammlungen von Kräften zu Fuß waren genau so tödlich, wie ein Vorrücken in großen Einheiten; eventuell sogar noch unter Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen.
Putin offensiv clever: „Die veränderten Angriffstaktiken Russlands zwingen die Ukraine zu Anpassungen“
„Die veränderten Angriffstaktiken Russlands zwingen die Ukraine zu Anpassungen durch den Bau kürzerer Verteidigungslinien und niedriger Stützpunkte, die für die am Himmel kreisenden Drohnen weniger sichtbar sind“, schreibt für Politico Veronika Melkozerova. Ihr zufolge habe die Ukraine Schwierigkeiten, diese neuen Offensiv-Kniffe zu adaptieren. Prinzipiell wackelt damit auch die Strategie von Europäischer Union und Nato: Russland in der Ukraine in die Knie zu zwingen oder durch einen Waffenstillstand zum Stillhalten zu drängen.
„Wir sehen jetzt, dass die effektivste Position maximal eine kleine Verteidigungsstellung ist. Und dabei handelt es sich hauptsächlich um Schützengräbengruppen, sogar um sogenannte Schützenlöcher, die es dem Feind unmöglich machen, Angriffsdrohnen einzusetzen.“
Putins Invasionsarmee allerdings wehrt sich dagegen mit Händen und Füßen, und die Ukraine ist wieder zur Reaktion gezwungen, vermutlich ohne dass sie eigene Strategien in taktisches Handeln umwandeln könnte. Wie Andriy Zagorodnyuk jetzt für den US Thinktank Carnegie Endowment for International Peace schreibt, mache Russland keine Anstalten zu einem Ende des Krieges und hole im Gegenteil zu einem noch längeren Krieg aus. Zagorodnyuk erinnert an die Äußerung des russischen Chefunterhändlers im Mai in Istanbul, wo Wladimir Medinsky hinwies auf den Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 „als Beweis dafür, dass Russland bereit sei, seinen Krieg gegen die Ukraine so lange fortzusetzen, wie es nötig sei“, wie ihn die Moscow Times zitierte.
„Der Große Nordische Krieg mit Schweden dauerte 21 Jahre. Einundzwanzig Jahre. Doch nur wenige Jahre nach seinem Beginn bot Peter der Große den Schweden Frieden an… Was antworteten die Schweden? ‚Nein, wir werden bis zum letzten Schweden kämpfen‘“, sagte Medinski in einem Interview mit dem kremlfreundlichen Fernsehmoderator Jewgeni Popow“, so die Moscow Times. Die Änderung hin zur jetzigen Taktik beweist deutlich, dass Russlands keineswegs gewillt ist, klein beizugeben.
Russlands Nadelstiche: Kleine Infanteriegruppen, die langsam durch die ukrainischen Linien sickern
„Ganze Angriffszüge rückten vor und versuchten dann, sich in Angriffsgruppen aufzuteilen. Jede Angriffsgruppe führte ihre Aufgabe aus und versuchte, eine unserer Stellungen einzunehmen“, sagt Wladislaw Woloschin gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Dem Sprecher der ukrainischen Armee zufolge führe Russland „an einem typischen Tag“ an der südlichen Frontlinie in der Region Saporischschja etwa zehn solcher kleinen Offensiven aus. Die Reuters-Autoren Yuliia Dysa und Max Hunder räumen ein, diese Angaben seien unbestätigt; sie legen damit aber nahe: „Die Änderung signalisiert einen möglichen Bruch mit der Taktik, auf die sich Russland über zwei Jahre lang verlassen hatte, und stattdessen nämlich kleine Infanteriegruppen zu schicken, die langsam durch die ukrainischen Linien sickern sollten.“
Die Ukraine reagiert, indem sie ihre Organisation anpasst – und eben für die kleinen angreifenden Einheiten die entsprechenden Verteidigungsstellungen baut, wie Politico berichtet: Hatten anfangs Gruppierungen auf Bataillonsebene zusammen verteidigt, also etwa 500 Kräfte, musste die Verteidigungslinie auseinander gezogen werden: über Kompaniestärke von rund 100 Kräften bis zu Zügen zwischen 20 und 50 Kräften. Jetzt ist die Ukraine bei noch kleineren Verbänden angekommen, wie das Magazin eine Aussage von Oleksandr Syrskyi von Ende Juni zitiert:
„Wir sehen jetzt, dass die effektivste Position maximal eine kleine Verteidigungsstellung ist. Und dabei handelt es sich hauptsächlich um Schützengräbengruppen, sogar um sogenannte Schützenlöcher, die es dem Feind unmöglich machen, Angriffsdrohnen einzusetzen. Letztendlich kann eine Drohne, insbesondere mit Glasfaser, aber jedes Loch durchdringen“, soll der Oberbefehlshaber gegenüber Journalisten in Kiew gesagt haben. Je kleiner die Einheiten, also Trupps von vielleicht einem halben Dutzend Kräften, desto höher der logistische Aufwand und die Koordination.
Ukraine-Krieg ändert Angriff und Verteilung: Das neue System erinnert an eine Perlenkette im Boden
Politico fasst zusammen, dass die Ukraine prinzipiell täglich ihre Verteidigung neu justieren muss. Die Gräben von bis zu fünf Kilometern Länge, die vielleicht auch an die Bilder aus den beiden großen Kriegen erinnern, haben sich überlebt. Das neue System erinnert an eine Perlenkette im Boden: Bis zu 70 Meter lange Grabennetze mitsamt ihrer Drohnenabwehr werden punktiert von befestigten Erdaushebungen, aus denen heraus die Ukrainer kämpfen. „Diese sind schwerer zu entdecken und erfüllen effektiv Aufgaben der Verteidigung, Abschreckung und Feuerkraft, auch gegen FPV-Drohnen“, zitiert Politico den ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umerow.
Trotz allem Zwang zur Improvisation versucht die Ukraine weiterhin, ihre Verteidigung tief zu staffeln, mit einer ersten, zweiten, vielleicht dritten Verteidigungslinie hinter den Schützenlöchern, weil ein Durchbruch russischer Kräfte immer einkalkuliert werden muss. In dieser räumlichen Tiefe addieren die Verteidiger Minen, Drachenzähne, also Tetraeder aus Beton, Holz, Beton sowie Sperren gegen Drohnen aus Netzen. „Befestigungen bestehen nicht nur aus Beton und Schützengräben – sie sind ein adaptives technisches System, das die Taktik des Feindes berücksichtigt und stets einem Ziel dient: dem Schutz unserer Krieger. Wir überwachen den Prozess täglich und verstärken die Bereiche, in denen es am dringendsten nötig ist“, sagte Umerov gegenüber dem Nachrichtenmagazin.
Das Magazin berichtet weiter darüber, dass die ukrainischen Kräfte darüber klagten, viel Zeit mit dem „Schanzen“ zu erbringen, also dem Bau von Befestigungen; sie beklagten sich über Fehlplanungen, die bereits befestigte Stellungen überflüssig machten, weil der Russe längst weiter vorgerückt ist, als kalkuliert war; sie klagten ebenfalls darüber, dass die Zeit durch eigene Geländegewinne kaum angemessen genutzt würde, um Rückzugspositionen ausreichen auszubauen – beispielsweise in den sechs Monaten, in denen die Ukraine die Oberhand über Kursk hatte, und Russland dort in verlustreiche Gefechte involviert gewesen war.
Fähige Offiziere schrecken Putins Truppen ab: Dann greifen sie dessen Nachbareinheiten an
Laut Politico klagen die Soldaten auch darüber, dass die Schützenloch-Taktik nach im Kriegshandwerk erfahrenen Unteroffizieren und Offizieren verlange: „Es hängt alles vom Kommandeur ab. Wenn er das Graben und Verminen befiehlt, wird das Gebiet massiv befestigt. Wenn die Russen sehen, dass dessen Einheit gut eingegraben ist, greifen sie dessen Nachbareinheiten an“, zitiert das Magazin einen anonymen Soldaten. Auch diese Umstellung der Taktik auf beiden Seiten hat der grundsätzlichen Unbeweglichkeit des Ukraine-Krieges bisher jedenfalls wenig Dynamik verschafft. Oder sie bedeutet tatsächlich den Anfang vom Ende – für welche Seite auch immer.
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Auch Analysten scheint schleierhaft, wie sie die neue Situation bewerten sollen, was beispielhaft Mai‘a Cross zusammenfasst: Bis zum 1. Juni behauptete Putin, er habe im Krieg einen gewissen Vorsprung und keinen wirklichen Grund, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Dies wirft ernsthaftere Fragen auf, ob er tatsächlich einen Vorsprung hat, und verdeutlicht erneut die Diskrepanz zwischen der Berechnung von Ressourcen, Arbeitskräften und Geld und dem Erfolg auf dem Schlachtfeld“, so die Politikprofessorin der Northeastern University in Boston, Massachusetts im Universitätsmagazin Northeastern Global News.
Open-Source-Analyst Roman Pohorilyi betrachtet dagegen lediglich die Fakten, wie Politico-Autorin Veronika Melkzerova urteilt über seine Beobachtung, allein im Juni hätten Wladimir Putins Truppen 500 Quadratkilometer ukrainischen Bodens unter ihre Knute bekommen: „Dies sei der schnellste Vormarsch seit vielen Monaten.“