Der Leipziger Stadtverwaltung liegt eine Petition vor, die einen „Erhalt und Gestaltung des Kanals an der Pfaffendorfer Straße als Holocaust-Gedenkstätte“ einfordert. Begründet wird das Ansinnen mit historischen Geschehnissen der nationalsozialistischen Judenverfolgung: „Im Kanal der Parthe an der Pfaffendorfer Brücke wurden am 9. November 1938 und in den Tagen danach (Novemberpogrome) hunderte jüdische Bürgerinnen und Bürger Leipzigs vor ihrer Deportation zusammengetrieben.“
In der historischen Begründung der Petition ist eine Bezugnahme auf zwei Publikationen erkennbar. 1993, im Buch „Jüdische Spuren in Leipzig“, schreibt Bernd-Lutz Lange von der öffentlichen Demütigung jüdischer Bürger im Parthekanal und ihrer anschließenden Verschleppung in Konzentrationslager. 1998 erschien der Band „Leipziger Denkmale“.
Hier wurde eine Konkretisierung eingefügt: „Die Nazis trieben einige hundert jüdische Bürger am Partheufer an der Brücke vor dem Zoo zusammen und stelltesie den Leipzigern ‚zur Schau‘ . Am Abend trieb man sie zum Hauptbahnhof, pferchte sie in Viehwagen und verschleppte sie in das KZ Buchenwald.“
Eine andere Sicht auf das Ereignis gibt die 2013 veröffentlichte Dokumentation „Orte, die man kennen sollte. Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit in Leipzig“ wieder: „Eine unmittelbar darauffolgende Deportation, wie sie die Inschrift [auf dem Gedenkstein] anzeigt, ist in diesem Zusammenhang nicht belegt.“
Wie der Gedenkstein an der Parthe entstand
Im Vorfeld des 50. Jahrestags des Novemberpogroms von 1938 wurde in Leipzig die lokale Forschung zur Verfolgung der Juden neu ausgerichtet. Dabei zeichneten sich erste Hinweise ab, dass im Bereich Parthenstraße/Uferstraße zwischen Pfaffendorfer Straße und Nordstraße Jüdinnen und Juden in die gemauerte Uferbegrenzung der kanalisierten Parthe getrieben und misshandelt wurden.
Zunächst wurde diese Gewaltaktion mit der sogenannten Polenaktion am 28. Oktober 1938 in einen Zusammenhang gestellt. An diesem Tag wurden in Leipzig etwa 1.600 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus ihren Wohnungen geholt, zum Hauptbahnhof gebracht und mit Zügen der Deutschen Reichsbahn an die deutsch-polnische Grenze verschleppt und in polnisches Grenzgebiet getrieben.
Mit dieser neuen Kenntnis ergriffen Anfang 1987 evangelische Kirchgemeinden Leipzigs zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum die Initiative, um einen Gedenkstein in der Parthenstraße zu errichten. Noch in der Planungszeit wurde aus Erzählungen von Zeitzeugen deutlich, dass die Gewaltaktion nicht am 28. Oktober, sondern am 10. November 1938 geschehen und Teil der Ausschreitungen des Novemberpogroms an diesem Tag in Leipzig war.
In die Erzählung über den zukünftigen Gedenkort floss mit ein, dass die im Kanalbett zusammengetriebenen Menschen zum Hauptbahnhof gebracht und in Konzentrationslager deportiert worden seien.
Der Gedenkstein am Partheufer. Foto: Ralf Julke
Am 16. November 1988 wurde der aus schwarzem Granit gefertigte Gedenkstein, finanziert vom Ökumenischen Arbeitskreis der Stadt Leipzig, nahe der Parthebrücke in der Pfaffendorfer Straße eingeweiht. Auf der linken Steinseite informiert eine Inschrift:
„Hier in diesem Graben / wurden im Jahre 1938 / jüdische Bürger / vor ihrer Deportation / zusammengetrieben.“
Vom Parthe-Schauplatz wurden keine Juden in Konzentrationslager verschleppt
Der Novemberpogrom begann in Leipzig am 10. November 1938 gegen 3 Uhr mit Brandstiftungen im Konfektionshaus Bamberger & Hertz in der Grimmaischen Straße/Ecke Goethestraße und in der Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße. Angetrieben vom Hass gegen Juden und den Befehlen der Vorgesetzten agierten die Täter. Es handelte sich um Mitglieder der NSDAP, der SA und des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, die zum Teil in städtischen Eigenbetrieben beschäftigt waren.
Auch das Geschehen an der Parthe wurde von diesen Tätergruppen bestimmt. Die Pogromtäter drangen in der Nordvorstadt, im Bereich Löhrstraße (damals Walter-Blümel-Straße), Nord-, Humboldt-, Keil-, Ufer- und Pfaffendorfer Straße in die Wohnungen jüdischer Mieter ein, bedrohten die Personen und demolierten Gegenstände. Frauen, Männer und Kinder wurden aus den Wohnungen in die Straßen gedrängt und in Gruppen zur Parthe eskortiert und hinab in den Uferbereich gestoßen. Dieses Vorgehen dehnte sich auf die Westvorstadt im Bereich Ranstädter Steinweg und Naundörfchen aus.
Ein Protest des polnischen Generalkonsuls Feliks Chiczewski änderte die Situation an der Parthenstraße. Mitarbeiter des Polnischen Generalkonsulats begaben sich zum Ereignisort und forderten die anwesenden Polizisten auf, dafür zur sorgen, dass die Schikanen gegen Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit aufhörten.
Tatsächlich konnten diese Juden in den Vormittagsstunden in ihre Wohnungen zurückkehren und schließlich endete die Gewaltaktion. Alle Juden konnten den Ort verlassen, niemand wurde unmittelbar inhaftiert.
Als der Pogrom in Leipzig begann, waren Polizei und Gestapo noch nicht beteiligt. Das direkte Eingreifen erfolgte mit einer Verhaftungsaktion, die gegen 7 Uhr am 10. November 1938 einsetzte, und die bis zum 16. November 1938 andauerte. Etwa 550 Juden deutscher Staatsangehörigkeit wurden verhaftet, im Polizeipräsidium registriert und anschließend in den Untersuchungsgefängnissen I und II sowie im städtischen Obdachlosenhaus inhaftiert.
Am 11. und 12. November 1938 wurden etwa 250 der inhaftierten Juden in vom Hauptbahnhof abfahrenden Zügen in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Am 14. November 1938 folgte noch ein Transport in das Konzentrationslager Sachsenhausen.
Ein Ort für eine lokale Holocaust-Gedenkstätte
Die Petition belebt die erkaltete Debatte zur Schaffung einer Holocaust-Gedenkstätte in Leipzig, an einem authentischen Ort, wieder. Allerdings wird mit historischen Voraussetzungen argumentiert, die zum einen nicht aufgetreten sind, und die zum anderen in einem anderen historischen Kontext stehen.
Für die jüdische Verfolgungsgeschichte in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus wird der Novemberpogrom von 1938 als Anfang vom Ende jüdischen Lebens und Vorzeichen des Holocaust geschichtlich eingeordnet. 1941 erklärten die Nationalsozialisten ein Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, die Ermordung der Juden in Europa, zu einem Hauptziel ihres Handelns. Im Herbst 1941 begannen die Vernichtungsdeportationen.
Im Januar 1942 organisierte die Gestapo in Leipzig die erste Deportation der Juden aus der Stadt. Am 19. Januar 1942 wurden 559 Jüdinnen und Juden in der 32. Volksschule in der Yorkstraße 2/4 (heute Erich-Weinert-Straße) einquartiert und zwei Tage später zum westlichen Güterbahnhof des Hauptbahnhofs gebracht und nach Riga deportiert. Von diesem Güterbahnhof fuhren 1942 noch zwei Deportationszüge ab.
Weitere bekannte Abfahrtsorte waren der Güter- und Rangierbahnhof Engelsdorf und der östliche Güterbahnhof, der sogenannte Dresdner Verladebahnhof, am Hauptbahnhof. Bei kleineren Transporten oder sogenannten Einzeltransporten fuhren die Züge mit Gefangenenwagen auch von den Gleisen des Hauptbahnhofs ab.
Beim Luftangriff am 4. Dezember 1943 wurde die 32. Volksschule zerstört. Danach übernahm die Städtische Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 63 mit einem dort eingerichteten Polizei-Ersatzgefängnis bei Deportationen die Funktion einer Sammelstelle. Beim letzten Transport am 14. Februar 1945 wurden die Menschen für einen Tag und eine Nacht in der 27. Volksschule in der Zillerstraße 9 einquartiert.
Anregungen zur Schaffung einer Holocaust-Gedenkstätte sollten diese historisch gesicherten Bezugspunkte berücksichtigen. Der Gedenkort an der Parthenstraße gehörte nicht zu den Schauplätzen der Deportationen.
Aber das authentische Gelände in der Riebeckstraße 63 mit Gebäuden der ehemaligen Städtischen Arbeitsanstalt kommt als ein solcher Erinnerungsort in hohem Maße in Betracht. Mit einem komplexen Ansatz kann an die Zeit des Nationalsozialismus, die Deportationsgeschichte der Juden und vergleichend an die NS-Verbrechen erinnert werden.
Auch die Gestaltung eines lebendigen Erinnerungsortes in der Riebeckstraße 63 hat begonnen. Ein gleichnamiger Initiativkreis setzt sich für die Einrichtung eines Gedenk-, Lern- und Begegnungsortes ein.
Autor: Steffen Held (geb. 1964) ist Historiker und hat unter anderem an zahlreichen Projekten zur jüdischen Geschichte Leipzigs mitgewirkt.