Berlin. Die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk hat 88.000 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert. Und sie ist längst noch nicht fertig.
Andriy ist gerade einmal zehn Jahre alt, als er und seine Eltern 2022 fluchtartig ihre Heimat Brovary in der Nähe von Kiew verlassen müssen. Leicht bepackt mit den wichtigsten Dokumenten versuchen sie, dem Krieg zu entkommen – doch es gelingt ihnen nicht. Mehrere russische Panzer kommen ihnen auf der Flucht entgegen, einer davon überfährt den Wagen. Andriys Vater stirbt sofort.
Seine Mutter, mit der er zusammen auf der Rückbank sitzt, überlebt zunächst und flüstert ihm etwas zu. Dann greifen russische Soldaten nach dem Jungen und holen ihn aus dem Auto. Anschließend setzen sie den Wagen in Flammen. Und Andriy sieht dabei zu, wie seine Mutter lebendig verbrennt.
Krieg in der Ukraine: Wie russische Kriegsverbrechen Scham, Schuld und Schrecken verbreiten
Oleksandra Matwijtschuk erzählt die Geschichte mit leiser Stimme, legt immer wieder Pausen ein, um Luft zu holen. Die ukrainische Juristin und Menschenrechtsaktivistin ist sichtlich angefasst. Andriy hat jemandem aus ihrem Team selbst von seinen Erlebnissen berichtet. Es ist einer von rund 88.000 Fällen möglicher Kriegsverbrechen, die Matwijtschuks Organisation Center for Civil Liberties (CCL) seit 2022 dokumentiert hat.
„Dieser Krieg macht aus Menschen Zahlen – und wir wollen den Menschen ihre Namen zurückgeben“, sagt Matwijtschuk. 2007 gründete sie das Center for Civil Liberties (CCL). Erfasst werden möglichen Kriegsverbrechen nach dem Genfer Abkommen von 1949. Dazu zählen zum Beispiel gezielte Angriffe auf zivile Objekte, Folter und Vergewaltigungen. Darüber hinaus setzt sich die Organisation für die Stärkung der Demokratie ein.
Oleksandra Matwijtschuk setzt sich für die Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ein.
© UNHCR | Chris Melzer
Matwijtschuks Team dokumentiert Kriegsverbrechen in der ganzen Ukraine
Die 41 Jahre alte Ukrainerin arbeitet mit einem nationalen Netzwerk aus vielen weiteren Organisationen zusammen. „Wir decken das ganze Land inklusive der von Russland besetzten Gebiete ab.“ Um an Informationen zu gelangen, nutzen sie verschiedene Daten-Quellen. Ganz entscheidend sei jedoch die lokale Dokumentation.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
Hinter den Kulissen der Politik – meinungsstark, exklusiv, relevant.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der
Werbevereinbarung
zu.
Nach einem russischen Angriff auf ein Kinderkrankenhaus schickten sie sofort ein Team zum Ort des Geschehens, um Fotos und Videos aufzunehmen und mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Das Team stammt aus der jeweiligen Region und hat deshalb viele Kontakte und kennt die örtlichen Gegebenheiten. „Das hilft uns sehr bei der Informationsgewinnung.“
Auch interessant
Kriegsverbrechen als Strategie: Verringerung der sozialen Bindung zwischen den Menschen
Sie selbst lebt in Kiew und bekommt neben ihrer Arbeit auch die alltäglichen Auswirkungen des Krieges zu spüren. „Es sind ganz simple Dinge, wie sich mit Freunden in einem Café zu treffen oder geliebte Menschen zu umarmen, die uns genommen wurden. Du lebst in totaler Unsicherheit und kannst deinen Tag nie richtig planen. Und du weißt nie, wann Russland die nächsten Raketen auf deine Stadt abfeuert.“
Oleksandra Matwijtschuk in ihrem Büro in Kiew. Die ukrainische Menschenrechtsaktivistin hat mit ihrer Organisation Center for Civil Liberties (CCL) seit 2022 rund 88.000 mögliche Kriegsverbrechen dokumentiert.
© Sebastian Boettcher
Laut der Ukrainerin würden Kriegsverbrechen zur Strategie Russland gehören. Insbesondere sexuelle Gewalt wie Vergewaltigungen hätten einen strategischen Nutzen. „Die Opfer fühlen Scham, ihre Familien und Nachbarn fühlen Schuld, weil sie es nicht verhindern konnten.“ Andere hätten wiederum Angst, dass auch sie Opfer werden könnten. „Diese komplexe Mischung von Gefühlen – Scham, Schuld und Angst – verringert die soziale Bindung zwischen den Menschen. Wenn du diese Verbindung auflöst, ist es deutlich einfacher, die besetzten Gebiete zu kontrollieren“, erklärt Matwijtschuk.
40 Länder haben sich auf einen Sondergerichtshof für Putin geeinigt
Derzeit sind die Möglichkeiten, russische Kriegsverbrechen zu ahnden, jedoch begrenzt. „Es gibt keinen internationalen Gerichtshof, der Putin strafrechtlich verfolgen kann“, erklärt sie. Das liegt daran, dass Russland den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht anerkennt. Seit Kriegsbeginn drängt sie auf ein Sondertribunal, um Putin für seine Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Und es sieht so aus, als bewege sich etwas.
Eine Rettungskraft hilft einer Frau in Odessa, aus einem brennenden Haus zu entkommen. Es wurde zum Ziel eines russischen Drohnenangriffs.
© AFP | HANDOUT
Im Mai verkündete der Europarat, dass sich rund 40 Länder darauf geeinigt haben, einen Sondergerichtshof für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine zu errichten. Grundlage dafür soll das Völkerrecht bilden. „Es wäre revolutionär, nicht nur für die Menschen in der Ukraine“, sagt Matwijtschuk. Der Prozess steht zwar noch am Anfang, sende aber ein starkes Signal an Putin.
2022 erhielt Matwijtschuks Organisation den Friedensnobelpreis: „Ich dachte, das sei ein Scherz“
Deutlich mehr Aufmerksamkeit und Einfluss bekam ihre Organisation Center for Civil Liberties durch die Auszeichnung mit dem Friedennobelpreis im Jahr 2022. „Ich war in Polen mit meinem Gepäck auf dem Weg zum Bahnhof, da rief mich plötzlich jemand an und sagte, dass wir den Friedensnobelpreis erhalten. Ich dachte, das sei ein Scherz, bis ich begriff, dass es keiner ist.“ Seitdem habe sich ihre Verantwortung deutlich erhöht. Jahrzehntelang seien die Stimmen von Verteidigern der Menschenrechte nicht gehört worden. „Jetzt, mit dem Friedensnobelpreis, haben wir diese Plattform.“
Dass ihr öffentlicher Kampf gegen russische Kriegsverbrechen sie in Gefahr bringt, sei ihr bewusst. Dennoch bewegt sie sich frei, ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen. „Ich akzeptiere die Gefahr. Ich lebe in der Ukraine, wir alle sind dort in Gefahr“, sagt sie. „Wenn wir abends ins Bett gehen, wissen wir nie, ob wir am nächsten Tag aufwachen.“
Psychische Belastung durch russische Kriegsverbrechen in der Ukraine
Nicht nur körperlich befindet sich die Ukrainerin in permanenter Gefahr. Ihre Psyche und die ihrer Kollegen könne sie vor den Fällen, mit denen sie konfrontiert werden, kaum schützen. „Wir versuchen, unseren Dokumentatoren psychologische Hilfe anzubieten. Aber am Ende sind wir alle nur Menschen – und wir können uns nicht davor schützen.“
Mehr Reportagen von Kriegsreporter Jan Jessen
Hoffnung hat Oleksandra Matwijtschuk dennoch. Damit meint sie nicht das Vertrauen darauf, dass alles schon gut wird, sagt die Ukrainerin. „Es ist viel mehr ein tiefes Verständnis davon, dass alle unsere Bemühungen eine Bedeutung haben.“ Hoffnung gibt es auch für Andriy. Nachdem er seine Eltern verloren hatte, kam der Junge bei Verwandten in Kiew unter. Nur einen Tag vor dem Gespräch, das Matwijtschuk mit dieser Redaktion geführt hat, gab es erneut russische Angriffe auf die Stadt. Andriys Wohnung sei dabei komplett zerstört worden, erzählt sie. Es gab Tote und Verletzte. Doch Andriy ist am Leben.