Eigentlich hätte Margot Friedländer in der ersten Reihe sitzen müssen. Zwei Monate nach ihrem Tod im Alter von 103 Jahren hat die von ihr gegründete Stiftung am Mittwoch zum Gedenken in die Philharmonie geladen. Am Ende ist man sich einig: Das wäre eine Feier nach ihrem Herzen gewesen, mit 1600 Gästen, die ihr praktisch alle mal live begegnet sind.
Deutlich spürbar ist, wie sehr die Holocaust-Überlebende, die 2010 im Alter von 88 Jahren nach über 60 Jahren in New York in ihre Heimatstadt Berlin zurückgekehrt ist, die Menschen bewegt hat. Das bleibt ein entscheidender, zukunftsweisender Teil ihres Vermächtnisses. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner macht das am Ende seines Grußworts für die große Ehrenbürgerin Berlins mit einem rhetorischen Kunstgriff deutlich.
Wahrheit muss nicht laut sein
Zunächst erinnert er voller Trauer, aber auch voller Dankbarkeit an „eine starke, mutige, lebensbejahende Frau“, an ihren letzten Auftritt im Roten Rathaus, zwei Tage vor ihrem Tod, bei dem sie fast alle Gäste zu Tränen rührte. „Sie hat uns verändert durch ihre Haltung“, sagt er. „Sie hat gezeigt, dass Menschlichkeit über Unmenschlichkeit siegt.“
Wahrheit müsse nicht laut sein. Mitgefühl und Wachsamkeit wirkten zwischen den Worten. Um diesen Gedanken zu illustrieren, beendet er seine Rede mit einem Moment der Stille.
Julia Klöckner, Bärbel Bas und viele Schüler sitzen im Publikum
Unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender sind gekommen, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, Arbeitsministerin Bärbel Bas, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der frühere Bundespräsident Christian Wulff, Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz, der französische Botschafter François Delattre, seine Amtskollegin aus der Schweiz Livia Leu, und der US-Geschäftsträger Alan Meltzer.
Dem Programm folgen auch Christina Rau, Heike und August von Joest, Eckart von Hirschhausen und Monika Grütters, die stellvertretende Vorsitzende der Margot Friedländer Stiftung, deren Schirmherr der Bundespräsident ist..
Beendet seine Rede mit einem Moment der Stille. Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner.
© AFP/LISI NIESNER
Steinmeier hält eine sehr persönliche Rede, spricht über die Freundschaft, die Friedländer ihm und seiner Frau geschenkt habe, als von einem „Schatz, der unser Leben für immer bereichern wird“. Er erinnert an „ihre Strahlkraft, die jeden Raum erfüllte“, an ihre Zugewandtheit, ihre große Liebe zu den Menschen.
Während seiner Rede ist im Hintergrund ein Bild zu sehen, das dokumentiert, wie die hier Geehrte im Alter erstaunlicherweise immer schöner wurde. Überhaupt werden zwischendurch immer wieder Fotos eingeblendet. Sie zeigen die großen Augen, die Orden, die Bernsteinkette der Mutter, den Gang durch das Holocaust-Mahnmal.
Sie wusste, was Menschen einander antun können.
Frank-Walter Steinmeier
Aber auch Familienfotos gehören dazu, von ihrem geliebten Bruder Ralph zum Beispiel, der so begabt war und im Teenageralter in Auschwitz ermordet wurde. „Margot Friedländer hatte die Gabe, in einfachen, knappen Worten das Ungeheuerliche zu schildern“, sagt Steinmeier.
„Und sie machte dabei ganz deutlich, was geschehen kann, wenn zu wenige Bürgerinnen und Bürger gegen Unrecht aufbegehren. Sie wusste, was Menschen einander antun können; was geschieht, wenn Menschen andere Menschen entmenschlichen.“
Große Liebe zu den Menschen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnert in seiner Rede an die herausragenden Eigenschaften der im Alter von 103 Jahren verstorbenen Margot Friedländer.
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Dass sie in ihre Heimatstadt Berlin zurückkehren konnte ohne Groll, nicht in Rache und Verbitterung steckenblieb, sondern Wahrheit suchte, und Aufklärung, dass sie unermüdlich warb für Menschlichkeit im Umgang miteinander, zieht sich wie ein roter Faden durch die Reden.
André Schmitz, einer ihrer ersten Freunde in Berlin, hat sie mal eine Menschenfischerin genannt. Der Orthopädieprofessor Karsten Dreinhöfer, der sie in den letzten Jahren begleitet hat und Vorstandsvorsitzender ihrer Stiftung ist, spricht von einer Brückenbauerin und Öffnerin der Herzen.
1600
geladene Gäste erinnerten sich an Margot Friedländer
Der muslimische Hamburger Lehrer Hèdi Bouden, der im letzten Jahr den Margot-Friedländer-Persönlichkeitspreis für sein außergewöhnliches Engagement in der Antisemitismus-Prävention bekommen hat, erinnert mit einem selbstverfassten Gedicht an die Stifterin und appelliert an die vielen Schüler, die in die Philharmonie gekommen sind: „Sie glaubte an euch. Sie glaubte, dass ihr es anders machen könnte: Besser, mutiger, wacher.“
Es ist eine erhebende Veranstaltung ohne Pathos, aber vielleicht gerade darum so bewegend. Viel ist von Hoffnung die Rede. Und die Gedenkstunde gibt allen Anlass zu der Hoffnung, dass dieses große Vermächtnis der Versöhnung lebendig bleibt in der Stiftung und von vielen weitergetragen wird.
Spenden für die Margot Friedländer Stiftung
IBAN: DE69 1005 0000 0191 2629 27
BIC: BELADEBEXXX (Berliner Sparkasse)
Max Raabe singt, wie schon bei der Beerdigung, noch einmal das Lied „Irgendwo auf der Welt“, das sie so geliebt hat. Der Staats- und Domchor führt Stücke von Viktor Ullmann („As de Rebbe Elimelech“) und Brahms („Da unten im Tale“) auf. David Hermlin und sein Swing Orchestra beenden die Feier mit einer leichten, fast heiteren Note.
Hermlin erzählt, wie gern Friedländer getanzt hat, wie sehr sie Swing mochte. Natürlich wird am Ende auch um Spenden geworben. Die Arbeit soll ja weitergehen. Karsten Dreinhöfer fasst das in einem eindringlichen Appell zusammen. “Es braucht unsere Stimme gegen Antisemitismus, gegen Ausgrenzung und Gleichgültigkeit.“ Jeder müsse die Verantwortung selbst annehmen.
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Beim anschließenden Empfang werden noch viele Erinnerungen ausgetauscht. Und immer wieder wird deutlich, wie sehr die Begegnungen mit Friedländer die Menschen berührt haben. Nein, das wird keine langweilige Stiftung von vielen, in der dieser Geist weitergetragen wird.
Auch wenn sie eine riesige Leerstelle hinterlassen hat, versteht es Friedländer allein durch ihr starkes Vermächtnis, die Menschen zu motivieren und dabei gleichzeitig in eine beschwingte Stimmung zu versetzen. Sie war ja keine Moralpredigerin, sondern eine Frau, die mit all der Autorität des Erlebten immer wieder sagte, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Seid Menschen.“