Wo, wie und mit wem man aufwächst, prägt ein ganzes Leben. Björn Kiehne, heute Erziehungswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin, steckt das Harzvorland in den Knochen – so tief, dass es zum „Herzvorland“ geworden ist. Da kann er schlecht aus seiner Haut. Will er ja auch nicht. „Der Harz ist letztendlich wie so eine Art State of mind“, sagt der Autor.

Auch im trubeligen Berlin nehme er sich immer wieder Augenblicke, in denen er seinen Häuserblock auch als kleines Dorf nutze, indem er die Nachbarn grüße und kleine Gespräche im Hinterhof führe. Einmal im Jahr organisiere er ein Hoffest, „wo man dann über das Hallo und den kurzen Plausch auch zusammensitzt unter einem Walnussbaum“, erzählt Kiehne. Er habe den Eindruck, sich damit Lupenrode – das fiktive Dorf in seiner Erzählung – ein wenig zu kreieren. „Und Sie können sich vorstellen, dass auch hier in einem Berliner Mietshaus viele Geschichten zusammenkommen“, betont der Autor.

Der Harz ist letztendlich eine Art State of mind.

Björn Kiehne, Autor

Ein Dorf im Harz und seine Geschichten

Aber gibt es im Mietshaus auch so schöne, spannende, berührende Geschichten wie aus Lupenrode, dem Harzdorf, das sich Björn Kiehne ausgedacht hat, um alle seine Tränen, Lacher, Gänsehäute, Sorgenfalten aus Kindertagen zu versammeln? Schwer zu glauben. Die Leser treffen auf die bärbeißige Frau Bauernochse, die erst im Sterben die Größe hat, ihrer Schwiegertochter für die jahrelange Pflege zu danken. Sie treffen auf Zwerge, die im Untergrund leben und mit den Harz-Menschen einen Nichtangriffspakt schließen. Auf Darius und seine Frau, die geflüchtet ist und eigentlich ein Mann. Auf Hexen, die ihre Besen längst gegen Siemens-Staubsauger und Laubbläser eingetauscht haben.

Es gebe ja durchaus auch kritische Biographien und Brüche im Leben der Charaktere, sagt Björn Kiehne. „Aber gleichzeitig ist es, wie ich finde, ein wenig eingehüllt in einen Zauber. Die Menschen begegnen einander und sind offen für die Andersartigkeit.“ Damit schaffe sich eine Atmosphäre, die der Autor „als Zauber oder Magie der Begegnung“ beschreiben würde.

Wenn man mir mein Herz herausschneiden würde und es in zwei Teile teilte, dann wurden seine Innenflächen genau diese Landschaft zeigen.

Kindheit im Harz mit Sagen und Legenden

Als Björn Kiehne ein Kind war im Harz, musste auch er Sagen und Legenden erfahren und ertragen. Das gehöre einfach dazu. Tanten und Cousinen erzählten von mystischen, manchmal gruseligen Wesen. Danach hätte er sich mit Angst in den Knochen nach Hause geschlichen, verrät der Autor. „Mit der Angst eben zum Beispiel vor dem Oker-Hund oder dem Feuermännchen, das da in der Wand wohnt, bis dann ein Feuer auftritt und dann heraussteigt.“ Und das sei dann auch – er sei ja nicht vor hunderten von Jahren aufgewachsen – vermengt mit Hollywood-Horror: „American Werewolf“ zum Beispiel und die Werwolf-Geschichten, die seine Cousinen daraus gemacht haben, hätten ihn einige Nächte gekostet, erzählt der 1972 geborene Autor.

Doch auch wenn es den Autor auch heute noch leicht gruselt: Er will und wird von seinem Harz nicht lassen. Äußerlich nicht – er hat dort ein Haus und einen Teil seiner Familie – und auch innerlich nicht. Die Liebe zum Harz kann selbst eine Stadt wie Berlin nicht zunichte machen, in der sich jeder Einwohner nur um sich selbst zu drehen scheint und alles gleich zum Projekt erklärt wird.

„Wir leben alle auch in einem Herzvorland, und die eigene Geschichte ist das Vorland des eigenen Tuns“, sagt Kiehne und ergänzt: „Ich denke, dass es hilft, das eigene Vorland, die Vorgeschichte zu kennen, zu durchleuchten, auch durchaus auf Distanz zu gehen, um freier zu werden und dem Leben mit Leichtigkeit und Offenheit zu begegnen.“

Erzählung über eigenwillige Charaktere

Wie das geht, liest man in „Herzvorland“: So fies, so skurril ein Charakter auch ist – Björn Kiehne beschreibt ihn immer freundlich, verständnisvoll. Das kann man nur, wenn man Begegnungen schätzt – und sich auf seine eigenen Erlebnisse berufen kann.

„Ich würde alle ermutigen, die Erzählungen nicht von anderen machen zu lassen, sondern die persönliche Erzählung selbst in den Mund zu nehmen. Nicht anderen die Macht darüber zu geben“, sagt der Autor.

Nun, der Erzählband „Herzvorland“ zeigt nicht eine Kindheit im Harz auf, sondern berichtet von den Einwohnern von Lupenrode. Und zwar so eindrücklich herzlich, dass man dem Autor einfach alles glauben mag. Vor allem seine Heimatliebe. Die fasst er in einem einprägsamen Bild zusammen: „Wenn man mir mein Herz herausschneiden würde und es in zwei Teile teilte, dann wurden seine Innenflächen genau diese Landschaft zeigen.“